5 Denkfehler vor einem Coming-out

von | 27. Aug 2022

Das Coming-Out ist doch keine große Sache mehr… oder doch? So jedenfalls hört man viele Menschen reden, die es aber gar nicht selbst betrifft. Tatsächlich ist ein Coming-out immer eine große Sache. Denn mit der Bewusstwerdung der eigenen sexuellen Orientierung kommen eine ganze Menge Ängste hoch. Es gibt nicht wenige Menschen, die so eine Ahnung haben, dass sie schwul sein könnten, den Gedanken dann aber wieder verwerfen, weil damit verbunden meist ängstliche Gedanken kommen, die eine weitere innere Auseinandersetzung verhindern. Dabei handelt es sich meist um gängige Denkfehler, die nur allzu verständlich sind, aber gar nicht der Wahrheit entsprechen. In diesem Artikel beschreibe ich 5 dieser Denkfehler, denen Betroffene vor einem Coming-out ausgesetzt sind.

1. Das ist nur eine Phase

Der Klassiker. Diesen Satz hat man früher oft gehört. Vor allem von besorgten Eltern oder unwissenden Ärzten. Vor allem Eltern wollten es nicht wahrhaben, dass ihr Kind anders ist und nicht die heterosexuellen Werte der Familie teilt. Es ist im Grunde eine Schutzreaktion, weil Eltern mit Homosexualität automatisch Abgrenzung, Mobbing, Anfeindung und Schmerz in Verbindung bringen, vor dem sie ihr Kind schützen wollen. Hilfreich ist das natürlich nicht, weil es signalisiert „Das, was du fühlst, ist falsch, also bist du falsch”. So einen Glaubenssatz in dem Kind zu platzieren, ist noch sehr viel schädlicher. Homosexualität ist keine Phase. Es ist aber auch kein “ganz oder gar nicht”. Wie alles im Leben, liegt auch die sexuelle Orientierung auf einem breiten Spektrum und kann nicht nur in Hetero-, Homo- und Bi-Sexualität eingeteilt werden. Irgendwo dazwischen liegen wir alle. Also glaube bitte nicht, dass es nur eine Phase ist, wenn du Gefühle für dasselbe Geschlecht empfindest, in der Hoffnung, dass das wieder weggeht. Vielmehr darfst du neugierig erforschen, wo in dem Spektrum du liegst. Vielleicht magst du beide Geschlechter gleich gerne? Oder du magst Menschen desselben Geschlechts mehr, aber schließt gewisse Menschen des anderen Geschlechts nicht per se aus? Finde deinen eigenen Weg. Das Einzige, was eine Phase ist, ist die Phase des Entdeckens!

2. Ich bin zu spät dran für ein Coming-out

Ebenfalls ein häufiger Gedanke von Menschen, die sich ihrer sexuellen Orientierung bewusst werden: Sie denken automatisch, dass sie damit zu spät dran sind. Dieser Gedanke ist ein automatischer Denkfehler und vor allem eine Falle. Denn er suggeriert dir, dass du dein bisheriges Leben verpasst hast. Das stimmt aber nicht. In einer heteronormativen Gesellschaft ist es viel schwieriger, zu erkennen, dass man anders ist. Aus Angst vor Ausgrenzung klammert man sich lange unbewusst an die Werte seines Umfeldes, selbst wenn diese nicht passen. Das ist eine Schutzreaktion der Psyche. Jeder ist zu einem anderen Zeitpunkt bereit und das ist auch völlig OK. Außerdem: Wer sagt denn, dass dein Leben besser verlaufen wäre, wenn du dir deiner sexuellen Orientierung bereits früher bewusst gewesen wärst? Es könnte durchaus sein, dass es sogar viel schlimmer gewesen wäre. Also beschäftige dich nicht damit, was gewesen wäre, sondern lieber mit dem, was nun kommt.

3. Jetzt muss ich mich komisch kleiden, um als Schwuler durchzugehen

Das kannst du natürlich machen. Aber müssen(!) tust du gar nichts. Ganz im Gegenteil. Finde deinen eigenen Stil. Es gehört zu deinem freien Leben dazu, nicht nur deine sexuelle Orientierung zu erforschen, sondern auch alle anderen Lebensbereiche für dich zu definieren, wie sie für dich am besten passen. Sei es in Sachen Kleidung, Hobbies oder den Menschen, mit denen du dich umgeben möchtest. Wenn du keine Lust auf Fußball, Kneipentouren oder Autos hast und stattdessen leidenschaftlich gerne tanzen gehst: Go for it! Niemand schreibt dir dein Leben vor. Erforsche, was dich glücklich macht und probiere alles aus. Am Ende bedeutet schwul sein nämlich nur, dass du dich zum selben Geschlecht hingezogen fühlst, wenn es um die Partnerwahl geht. Dein Kleidungsstil, deine Freizeitaktivitäten und deine Freunde müssen in kein bestimmtes Klischee passen, damit du in deiner Welt anerkannt wirst.

4. Nach dem Coming-out muss ich mein Leben bei Null anfangen

Ein häufiger Denkfehler, der viele vom Coming-out abhält, ist der, dass sie denken, ihr Leben sei zu Ende. Jedenfalls so, wie sie es bisher geführt haben. Und dass sie nun ohne Familie und Freunde bei Null anfangen müssen und alles verlieren. Das macht verständlicherweise erstmal Angst. Die Wahrheit ist aber, dass das Leben jetzt erst los geht. Aber nicht bei Null. Du darfst selbst auf dein bisheriges Leben schauen und entscheiden, was du noch behalten möchtest, weil es zu deinem authentischen Ich passt und was du ruhigen Gewissens hinter dir lassen kannst. Erstaunlicherweise wirst du nämlich wenig verlieren, was dir am Herzen liegt. Du wirst viel mehr das behalten können, was du liebst und darüber hinaus viel Neues hinzugewinnen, was du dir jetzt vielleicht noch nicht vorstellen kannst. Neue Menschen treten in dein Leben. Menschen aus deinem vorherigen Leben bleiben dir aber erhalten, wenn sie zu dir halten und zu dir passen. Menschen, die das nicht tun, kannst du ziehen lassen. Vieles ist integrierbar. Ein Leben bei Null ist zwar immer eine Möglichkeit, aber nur, wenn ein so radikaler Switch wirklich zu dir passt.

5. Als Homosexueller kann ich keine Familie gründen

Zugegeben, es ist natürlich schwieriger, sich eine eigene Familie mit Kindern aufzubauen, wenn man homosexuell ist. Aber das bedeutet nicht, dass es unmöglich ist. Seit 2017 und der Eheöffnung für alle, wurde auch das Adoptionsrecht angepasst. So ist es für homosexuelle Paare einfacher geworden, Kinder zu adoptieren. Eine Leihmutterschaft ist in Deutschland zwar verboten (dafür gibt es auch Gründe). Allerdings gibt es andere Länder, die eine Leihmutterschaft unter strengen Bedingungen erlaubt haben. So ist es also möglich, auf andere Länder auszuweichen, wenn man ein leibliches Kind haben möchte. Diese Entscheidung darf allerdings nicht leichtfertig getroffen werden, weil es ein zum Teil enorm finanzieller Aufwand ist und zum anderen weitere Faktoren berücksichtigt werden müssen (z.B: wer wird der Vater). Aber prinzipiell ist es sehr gut möglich, als Homosexueller auch eine eigene Familie zu gründen.

Fazit

Viele Menschen, die erkennen, dass sie nicht heterosexuell sind, haben Angst vor einem Outing, weil sie sich intuitiv mit den negativen Konsequenzen beschäftigen. Dabei kursieren leider auch viele Denkfehler, die nicht hinterfragt werden. Diese halten viele davon ab, sich weiter bewusst mit ihrer Sexualität zu befassen und sie verschwinden erst mal wieder sprichwörtlich in ihrem Schrank. Das ist schade und muss gar nicht sein. Eine kritische Auseinandersetzung mit solchen Gedanken ist hilfreich, um diese zu entkräften und sich dann dem Leben zuzuwenden, was wirklich für einen bestimmt ist und Freiheit bedeutet.

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