Haben Homosexuelle ein Selbstwertproblem?

von | 29. Apr 2022

Kennst du vielleicht auch diese unangenehmen Situationen, in denen du mit Menschen zu tun hast, bei denen du ungeoutet bist? Alle erzählen von ihrem Wochenende. Der eine war mit seiner Frau lecker Essen, der nächste hatte mal wieder Streit mit seiner Freundin und ein anderer wiederum erzählt stolz davon, dass er mit seinen Jungs auf der Piste war, um Frauen aufreißen. Und du? Du würdest auch gerne davon berichten, dass du einen Streit mit deinem Freund hattest. Aber vielleicht hast du aber gar keinen Freund. Du bist womöglich Single und traust dich auch nicht zu erzählen, dass du am Wochenende zwar ebenfalls mit deinen Jungs unterwegs warst, aber halt in einer Schwulenbar, um andere Jungs kennenzulernen. Lässt das auf ein Selbstwertproblem schließen?

Gesellschaftliche Akzeptanz ist da

Jetzt sollte man meinen, dass es in unserer toleranten Gesellschaft heutzutage doch gar kein Problem mehr ist, wenn man schwul, lesbisch, trans oder generell queer ist. So hört man in den Medien daher auch immer wieder die Forderung, es solle sich endlich ein Profifußballer in Deutschland outen. Denn rein statistisch gesehen, müsste es eine Menge schwuler Profifußballer geben. Und als Vorbildfunktion wäre es richtig und wichtig für andere Menschen, die ebenfalls vor einem Outing stehen, aber Angst haben.

Sich zu outen ist eine Herausforderung

Was sich “von“außen” so einfach fordern lässt und ja durchaus seine Berechtigung hat, ist für den Betroffenen aber alles andere als einfach. Ganz im Gegenteil, es ist ein fast unüberwindbares Hindernis. Und nicht nur homosexuellen Menschen, die explizit in der Öffentlichkeit stehen, geht es so. Im Prinzip ist es für jeden queeren Menschen eine riesen Herausforderung, zu sich zu stehen und das auch ganz offen und selbstbewusst zu zeigen. Warum ist es so verdammt schwer zu sich selbst zu stehen und sich so zu zeigen, wie man wirklich ist?

Geringer Selbstwert fühlt sich echt an

Menschen, die Angst davor haben, sich so zu zeigen wie sie sind, leiden unter einem geringen Selbstwert-Empfinden. Das ist  kein reines Problem von Homosexuellen, aber bei ihnen tritt es ganz besonders häufig auf. Die Betonung liegt dabei auf “Empfinden,” denn sie denken von sich selbst, dass sie weniger wert, anderen unterlegen, uninteressant oder nicht liebenswert sind. Diese Überzeugung projizieren sie in andere Menschen. Das bedeutet, dass sie automatisch davon ausgehen, dass andere Menschen genauso schlecht über sie denken, wie sie selbst über sich. Tragischerweise ist das gar nicht wahr, denn fast keiner denkt so negativ über jemand anderen wie über sich selbst. Eine rein rationale Betrachtung hilft hier allerdings leider nicht, denn das Empfinden, nicht wertvoll zu sein, fühlt sich so echt an, dass man mit dem reinen Verstand nicht dagegen ankommt.

Das Selbstwertgefühl gibt es nicht

Was ist aber der Selbstwert genau und wie entsteht ein niedriges Empfinden für den eigenen Selbstwert? Zunächst einmal eine spannende Klärung der Begrifflichkeit: Oft wird von dem sogenannten Selbstwertgefühl gesprochen. Im Grunde gibt es so ein Gefühl gar nicht. Bei Erlebnissen, die unseren Selbstwert betreffen sind ganz unterschiedliche Gefühle im Spiel und nicht nur ein klar differenzierbares Gefühl. Das sind z.B. Stolz, Freude oder Gelassenheit bei einem positiven Selbstwert-Erlebnis. Scham, Trauer, Angst oder Wut bei einem negativen Erlebnis, einer sogenannten Selbstwertkrise. 

Bin-Ich ist ein verzerrtes Selbstbild

Im Grunde basiert der empfundene Selbstwert auf einem Vergleich verschiedener Vorstellungen, die ich über mich selbst habe. Da gibt es zum einen das “Bin-Ich”. Das ist das Selbstbild, was ich von mir habe. Mit allen positiven sowie negativen Eigenschaften und Fähigkeiten. Also wie ich glaube, tatsächlich zu sein. Leider ist dieses Bild in aller Regel negativ geprägt und beinhaltet eine Menge Verzerrungen, die einem Realitätscheck nicht standhalten würden. Klassische Beispiele hierfür sind: 

  1. Ich bin zu fett/hässlich
  2. Ich bin zu dumm/unbegabt 
  3. Ich bin zu uninteressant
  4. Ich kann das nicht.

Soll-Ich stellt überzogene Forderungen

Das zweite Bild ist das sogenannte “Soll-Ich”. Das ist das Bild, was ich von mir habe, wie ich in meinen Vorstellungen sein sollte. Dieses Bild ist gespickt mit gesellschaftlichen Normen sowie Erwartungen und Überzeugungen aus meinem Umfeld. Diese Überzeugungen sind in aller Regel aber völlig überzogen und werden leider auch nicht hinterfragt. Typische Beispiele hier sind

  1. Ich sollte schon längst weiter sein im Leben
  2. Ich sollte bereits viel mehr Geld haben
  3. Ich sollte Haus, Frau und Kind haben
  4. Ich sollte das doch können.

Hier spiegeln sich gerade für homosexuelle Menschen die geballten Erwartungen der heteronormativ geprägten Gesellschaft wieder, die unbewusst diktiert “Ich sollte heterosexuell sein”.

Das Wunsch-Ich ist zu vage

Das dritte Bild ist das “Wunsch-Ich”. Hier spiegeln sich alle Sehnsüchte und Wünsche wider, wie ich mein Leben führen möchte, wenn es völlig frei von gesellschaftlichen Normen sowie den Erwartungen anderer Menschen wäre. Beispiele hier sind

  1. Ich wünsche mir eine ehrliche Beziehung voller Liebe und Vertrauen
  2. Ich wünsche mir eine Tätigkeit, die Spaß macht und mich erfüllt
  3. Ich wünsche mir das zu tun, worauf ich Lust habe.

Dieses Bild ist leider nur sehr vage, weil viele Menschen gar nicht so genau wissen, was sie eigentlich wollen. Tatsächlich verwechseln sie ihr Wunsch-Ich mit ihrem Soll-Ich, weil dieses leider viel zu laut ist und alles übertönt. So glauben viele, dass sie unbedingt ein eigenes Haus, mit Garten und einer kleinen Familie wollen. Der Wunsch, der hier drin steckt ist der nach Sicherheit und Bindung. Das Soll-Ich diktiert hier, wie dieser Wunsch angemessen erfüllt werden muss. Dass man sich Bindung und Sicherheit auch anders erfüllen kann, bemerkt man erst einmal gar nicht.

Niedriger Selbstwert entsteht aus Vergleichen

Ein niedriges Selbstwertempfinden kommt nun zustande, wenn diese drei Bilder miteinander verglichen werden.

Wenn ich gemäß meinem Soll-Ich schon viel weiter, schöner, reicher sein müsste, als ich es laut meinem verzerrten Bin-Ich wirklich bin, entsteht ein Schamgefühl, bisher im Leben versagt zu haben. Vergleiche ich hingegen mein Wunsch-Ich mit meinem verzerrten Bin-Ich, entsteht Trauer darüber, dass ich das, wonach ich mich sehne, nicht erreicht habe und vielleicht auch nie erreichen werde.

Besonders Homosexuelle haben ein Selbstwertproblem

Gerade homosexuelle Menschen haben hier ein großes Problem. Ihr Soll-Ich ist nämlich voll von Forderungen und Überzeugungen einer gesellschaftlichen (heteronormativen) Norm, die sie gar nicht erfüllen können. Selbst nach dem Coming-Out sind diese Überzeugungen noch vorhanden und treiben im Inneren ihr Unwesen. Ihr Soll-Ich bombadiert sie dann mit Sätzen wie “Du musst dich anpassen”, “Da musst hetero-like sein”, “Du musst einen perfekten Körper haben”. Alles Sätze, welche die Absicht haben, nicht negativ aufzufallen. Denn wer als Homosexueller erkannt wird, entspricht nicht mehr der Norm und wird abgewertet, gedemütigt, ausgelacht, geschlagen. So jedenfalls die Vorstellungen im Inneren.  

Internalisierte Homophobie verringert den Selbstwert

Was zusätzlich am Selbstwert nagt ist die sogenannte internalisierte Homophobie. Das ist eine verinnerlichte, negative Einstellung zur eigenen Homosexualität. So paradox das nun klingen mag, dass Homosexuelle ihre eigene Homosexualität ablehnen, so einfach ist das psychologisch zu erklären. Dass Homosexualität nicht normal ist, haben Kinder in der Vergangenheit bereits früh gelernt. Um also vor allem in den eigenen Peer-Groups, also der Gruppe Gleichaltriger, dazuzugehören, werden die geteilten Wertvorstellungen verinnerlicht. Sich als Gruppe ein gemeinsames Feindbild zu schaffen, stärkt nachweislich den Zusammenhalt der Gruppe und schafft Sicherheit für den Einzelnen. Da sind queere Menschen eine willkommene Zielscheibe.

Wenn nun ein Mensch für sich selbst erkennt, dass er homosexuell ist, sind diese alten Wertvorstellungen bereits tief im Inneren Verankert. Es entsteht ein Konflikt, der unbewusst ausgetragen wird. Zum einen weiß derjenige nun, dass er homosexuell ist, zum anderen trägt er die Überzeugung in sich, dass Homosexuelle abnormal sind. Also lehnt er sich in gewisser Weise selbst ab, ohne es bewusst zu merken und empfindet dabei Scham, nicht normal zu sein sowie Angst davor, abgelehnt zu werden. Als Folge entsteht dann eine typische Situation, wie sie in der Einleitung geschildert wurde: Die Angst davor, sich bei anderen zu outen.  Im Prinzip eine Selbstwertkrise, wie sie im Buche steht.

Ich hoffe nun wird auch deutlich, warum vor allem homosexuelle Menschen unter Selbstwertproblemen leiden.

Der Selbstwert kann gesteigert werden

Bedeutet das nun, dass man mit seinen Selbstwertproblemen leben muss und niemals frei sein kann? Natürlich nicht. Der empfundene Selbstwert kann gesteigert werden. Ziemlich gut sogar. Aber…..Das Empfinden des eigenen Selbstwertes hat sich seit frühester Kindheit über Jahre aufgebaut und wurde tief verinnerlicht. So ist es nicht mal eben schnell wieder geradezubiegen. Es ist ein langer Weg, der viel Geduld und Selbstakzeptanz benötigt. Am Ende steht jedoch ein freies und selbstbestimmtes Leben. Es lohnt sich also in jedem Fall.

Coaching oder Therapie ist das Mittel der Wahl

Wer das Gefühl hat, unter einem  geringem Selbstwert zu leiden und sich dadurch massiv beeinträchtigt fühlt, dem empfehle ich, sich einen Coach oder Therapeuten zu suchen, der auf das Thema Selbstwert spezialisiert ist. Auch wenn vor allem Menschen mit einem geringen Selbstwert Angst davor haben, sich Hilfe zu suchen, ist das keine Schande. Ganz im Gegenteil, es zeugt von Stärke, sich seine Schwäche einzugestehen. Sich zu überwinden und Hilfe zu holen ist bereits der erste Schritt in Richtung Heilung. Es lohnt sich, denn die Alternative ist, ewig mit seinen Problemen zu hadern, bis an das Ende des eigenen Lebens. Das braucht nicht sein.

Therapeutische Bücher helfen

Wer es lieber erst mal alleine für sich versuchen möchte, dem empfehle ich das Buch “Ganz viel Wert” von Hanning und Chmielewski. Das Buch ist therapeutisch aufgebaut und kann sehr intensiv durchgearbeitet werden. Es enthält viele Übungen und Erklärungen, so dass man hier bereits sein Selbstwertempfinden deutlich steigern kann. Wichtig ist jedoch, dass es kein Buch ist, welches man einmal durchliest und dann ist alles gut. Nur wer sich jeden Tag Zeit nimmt und mit dem Buch intensiv arbeitet, wird langfristig davon profitieren können.

Zusammenfassung

Gerade homosexuelle Menschen leiden unter Selbstwertproblemen. Ihre innere Vorstellung, wie sie zu sein haben (das Soll-Ich) diktiert überzogene und unerreichbare Forderungen, die stark von dem eigenen Selbstbild (dem Bin-Ich) abweichen. Heteronormative gesellschaftliche Normen führen dazu, dass gerade Homosexuelle eine Negativität gegenüber Homosexualität verinnerlichen, was dann unbewusst zu Scham und Ablehnung der eigenen Person führt. Der Selbstwert kann gesteigert werden, sodass ein freies Leben möglich ist, beinhaltet jedoch viel Selbstakzeptanz und Arbeit in sich selbst. Der beste Weg führt über intensives Coaching oder eine Therapie.

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