Warum Online-Dates oft enttäuschen

von | 11. Aug 2022

Das Internet hat so einiges in den letzten 20 Jahren revolutioniert. Unter anderem, wie wir mittlerweile potenzielle Partner kennenlernen. War es früher für homosexuelle Menschen sehr schwierig, überhaupt jemanden kennenzulernen, ist es heute durch diverse Plattformen deutlich einfacher geworden Online-Dates zu haben. Man erstellt ein Profil, lädt ein paar Fotos hoch, gibt an, dass man als Mann einen Mann sucht und schon geht’s los. Hat man sich mit jemandem zu einem Treffen verabredet, steigt die Vorfreude, gemischt mit etwas Aufregung. Dann der Moment: Man sieht sich das erste Mal “live”. Doch irgendwie verfliegt die Freude schnell und es mischt sich ein ungutes Gefühl mit rein. Er ist zwar ganz nett, aber doch anders, als man sich ihn vorgestellt hat. Warum enttäuschen die meisten Online-Dates, wenn es zu einem Treffen kommt?

Enttäuschung beruht auf Gegenseitigkeit

Interessanterweise ist das kein einseitiges Phänomen. Denn nicht nur deine Online-Dates enttäuschen dich, auch du enttäuschst deine Online-Dates auf dieselbe Art und Weise. Das liegt nicht daran, dass du so “weird” bist oder keine Sozialkompetenz besitzt. Es ist unser Verstand, der aufgrund seiner Arbeitsweise ein Bild des Gegenübers im Vorfeld kreiert hat, welches leider nichts mit der Realität zu tun hat. Wie sollte es auch, man hat die Person ja noch nicht wirklich kennengelernt. Mit anderen Worten, egal wie lang oder auch kurz du mit jemandem vorher geschrieben hast: Du wirst ihn bei einem echten Treffen immer komplett neu kennenlernen müssen.

Der Verstand hat eine Autovervollständigung

Wie genau aber funktioniert dieser Mechanismus, den unser Verstand hier verwendet?
Ist dir schonmal aufgefallen, dass du zu allem, was du so erlebst, immer sofort ein recht vollständiges Bild im Kopf hast? Du siehst z.B. in den Nachrichten, dass in den USA gerade Springbreak ist und sofort hast du ein Bild im Kopf, wie es dort sein müsste. So als ob du gerade selbst dort bist. Solltest du dann tatsächlich mal in die Situation kommen, zum Springbreak die USA zu besuchen, wirst du feststellen, dass es doch völlig anders ist, als du es dir vorgestellt hast.

Unser Verstand mag keine Lücken und möchte Unsicherheiten vermeiden, wo es nur geht. Also bedient er sich eines Tricks: Er baut sich eine möglichst vollständig wirkende Geschichte zu der vorgestellten Situation zusammen. Alle Lücken in dieser Geschichte werden mit Wahrscheinlichkeiten aufgefüllt, welche auf Erfahrungen aus der Vergangenheit bzw. der eigenen Fantasie beruhen. So ist am Ende eine vollständig wirkende Vorstellung einer Situation im Kopf vorhanden, die man noch nie selbst erlebt hat. Aber es fühlt sich so an, als wüsste man, was da so abgeht.

Personen werden ebenfalls autovervollständigt

Dasselbe passiert auch bei Menschen. Wenn wir jemand Neues kennenlernen, haben wir sofort eine Ahnung, wie diese Person sein müsste. Irgendwie haben wir im Bruchteil von Sekunden ein vollständig wirkendes Bild unseres Gegenübers im Kopf. Einige würden dazu Menschenkenntnis sagen. Tatsächlich stimmen ganz oft zugeschriebene Eigenschaften mit den tatsächlichen Eigenschaften des Menschen überein. Unsere Mustererkennung funktioniert in diesem Fall hervorragend. Häufig liegen wir aber auch völlig daneben und schreiben der Person Verhaltensweisen oder Eigenschaften zu, die vielleicht auf Erfahrungen mit Menschen basieren, die wir von früher kennen und die eine erstaunliche Ähnlichkeit mit der Person haben. Man spricht hier auch von Projektionen. Wir projizieren Erfahrungen mit anderen Menschen auf Menschen, denen wir neu begegnet sind..

Beim Online-Dating passiert nichts anderes. Wir sehen auf dem Profil einer Person die Fotos und entscheiden, ob er unser Typ ist oder nicht. Auch hier greifen Projektionen und vergangene Erfahrungen. Wenn der Profiltext ebenfalls passt, “matchen” wir los und der Chat kann beginnen. Da wir den Menschen am anderen Ende der App nicht kennen, unser Verstand aber keine Unsicherheiten mag, vervollständigt er wieder alles Fehlende mit eigenen Vorstellungen, wie der Mensch sein müsste. Das vermeintlich konsistente Bild im Kopf, könnte aber nicht  weiter von der echten Realität entfernt sein. Wie könnte es auch anders sein? Um jemanden kennenzulernen, reichen Bilder und chatten nicht aus. Es gehören Bewegung, Stimme, Mimik, Gestik, Körpergeruch und vieles mehr dazu, um ein echtes Bild von jemandem zu erhalten.

Vorstellungen werden idealisiert

Jetzt kommt noch ein weiteres Problem hinzu. Denn die Lücken, die unser Verstand zu füllen versucht, sind in aller Regel idealisierte Vorstellungen eines Traumpartners. Das heißt, dass das, was uns an Informationen über den Chatpartner fehlt, mit unseren Sehnsüchten und Idealvorstellungen eines Partners aufgefüllt wird. So entsteht ein extrem positives Bild, welches einer Realitätsprüfung aber nicht standhalten kann. 

Denselben Effekt hat übrigens auch das Tragen einer Maske. Hast du während der Corona-Pandemie schon mal den Effekt bemerkt, dass Menschen unter einer Maske extrem attraktiv wirken und das, obwohl wir gar nicht das ganze Gesicht sehen? Auch hier vervollständigt unser Gehirn das unvollständige Bild zu einem Gesamtbild und wir haben eine Vorstellung davon, wie die Person ohne Maske aussehen könnte. Erneut wird die Person durch unseren Verstand ideal vervollständigt. Nimmt die Person die Maske ab, sind wir erschrocken, wie anders der Mensch doch aussieht. 

Der Realitätscheck schlägt fehl

Beim Online-Dating passiert nun das, was unvermeidlich ist. Man sieht den Menschen in echt und er hat einfach keine Chance, unseren idealisierten Vorstellungen zu entsprechen. Er hat also schon verloren, bevor wir überhaupt anfangen, ihn kennenzulernen. Andersrum passiert dasselbe. Dein Match hat dich bereits in einer idealisierten Version in seinem Kopf. Zwei enttäuschte Menschen verbringen dann etwas Zeit zusammen. Allzu oft wird es dann ein nettes Date, bei dem man ab Minute eins schon weiß: “Schade, doch wieder nichts”. Mal wieder ein Online-Date, welches enttäuscht hat. Aber der Richtige kommt ja sicher bald….

Wie Online-Dates trotzdem funktionieren

Bedeutet das nun, dass Online-Dates immer zum Scheitern verurteilt sind?
Natürlich nicht. Es hilft, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass unser Verstand diese idealisierte Autovervollständigung besitzt. Wenn man das weiß, kann man ganz anders an solche Treffen herangehen. So braucht man bei den Chats lediglich herausfinden, ob sich ein erstes Treffen generell lohnen könnte, weil man sich sympathisch findet und ein paar wichtige Werte und Vorstellungen übereinstimmen. Beim eigentlichen Treffen kann man dann entspannt zu sich selbst sagen “Jetzt lerne ich die Person erst kennen, alles was vorher gewesen ist, war nur dazu da, um herauszufinden, ob sich ein Treffen lohnt”.
Zugegeben, es ist gar nicht so einfach, seine Idealvorstellung eines Menschen aufzugeben, aber wenn man das bewusst macht, begegnet man Menschen anders, als es mit der enttäuschten Haltung eines nicht erfüllbaren Bildes der Fall gewesen wäre. So lernt man Menschen kennen, die man sonst vielleicht verpasst hätte.

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