Was kommt nach dem Coming-out?

von | 20. Jul 2022

Du weißt es also nun, und dann? Die Bewusstwerdung der eigenen sexuellen Orientierung ist eine große Sache. Viele beschreiben dies als den größten Aha-Moment ihres Leben. Er ist mit großer Erleichterung verbunden, weil das Versteckspiel endlich aufhört. Eine große Last fällt ab, da man sich nun rückwirkend endlich so viele Dinge erklären kann. Aber was nun? Steht nicht das bisherige Leben vor dem Einsturz? Muss man sich nun vor anderen outen? Was wird die Familie sagen? Werden sich die Freunde abwenden? Ein riesen Schritt ist geschafft, aber vor einem türmt sich der nächste, fast unüberwindbare Berg auf. Was kommt nach dem Coming-out? Wie kann es nun weiter gehen? 

In diesem Artikel beschreibe ich, welche Türen einem frisch Geouteten nun offen stehen und warum der Berg vor einem doch nicht so unüberwindbar ist, wie er scheint.

Das Coming-out verläuft in Phasen

Das Coming-out ist ein komplexer Entwicklungsprozess, der sich über sehr lange Zeit hinziehen kann. Vivienne Cass hat dazu ein sechs-Stufen-Modell entwickelt, mit dem sie unter anderem beschreibt, wie die Entwicklung in jeder Stufe vorübergehend zum Stillstand kommen kann. Dadurch lässt sich auch gut erklären, warum Coming-outs so unterschiedlich verlaufen und für die einen in frühester Jugend passiert, während andere ihr Coming-out erst im höheren Alter haben. Zu diesem Modell wird es noch einen eigenen Beitrag geben. In diesem Beitrag beschränke ich mich auf die sehr vereinfachte Sicht des inneren und des äußeren Coming-outs.

Das innere Coming-out ist ein Prozess

Vom inneren Coming-out spricht man, wenn sich ein Mensch seiner sexuellen Orientierung bewusst wird. Es ist ein Prozess, denn von der ersten Ahnung bis zu vollständigen Akzeptanz und Annahme kann viel Zeit vergehen. Dazwischen können Phasen der Verdrängung und des “nicht wahrhaben wollens” liegen, in die sich immer mal wieder Phasen der Bewusstwerdung über die sexuelle Orientierung einmischen. Eine erste Ahnung haben die meisten bereits in ihrer Kindheit oder mit dem Beginn der Pubertät. Sie merken, dass sie irgendwie anders sind, als ihre gleichaltrigen Kameraden. Wie schnell sich jemand dann jedoch dafür entscheidet, sich damit auseinander zu setzen, hängt von vielen Faktoren ab. Da ist zum einen das angeborene Temperament, die entwickelte Persönlichkeitsstruktur, aber vor allem das familiäre und soziale Umfeld

Es ist also ein komplexes Zusammenspiel vieler Wirkungsfaktoren. So können z.B. Menschen, die in einem sehr homofreundlichen Umfeld aufwachsen, dennoch lange brauchen, um sich der eigenen sexuellen Orientierung bewusst zu werden. Das kann dann der Fall sein, wenn sie von Natur aus eher ruhiger sind und eine tendenziell ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstruktur haben. 

Abschluss des inneren Coming-outs

Das innere Coming-out ist dann abgeschlossen, wenn sich ein Mensch vollständig seiner sexuellen Orientierung bewusst wird und diese akzeptiert. Es kann ein Moment sein, wo dem Betroffenen schlagartig klar wird, dass er homosexuell ist. Der innere Widerstand wird aufgegeben, weil diese Erkenntnis als Wahrheit nicht mehr verleugnet, sondern endlich akzeptiert werden kann. Viele beschreiben so einen Moment dann gerne als größten Aha-Moment in ihrem Leben. Für andere wiederum entwickelt sich diese Gewissheit erst im Laufe der Zeit und es dauert etwas, bis diese Akzeptanz vollständig vorhanden ist.

Inneres Coming-out ist eine Erleichterung

Was die meisten jedoch am Anfang ihres inneren Coming-out-Prozesses erleben ist: Eine starke Verunsicherung. Die erste Ahnung, anders zu sein, paart sich mit der Angst, dass sie nicht mehr dazugehören könnten. So verdrängen Viele ihre anfänglichen Gefühle zunächst unbewusst, um sich zu schützen. Dieser psychische Schutzmechanismus kommt allerdings mit einer Kehrseite. Denn durch die Unterdrückung der eigenen Identität entwickeln sich psychische und meist auch körperliche Symptome als Zeichen, dass etwas nicht in Ordnung ist. Angststörungen, Depressionen oder körperliche Schmerzen können eine mögliche Folge sein. Die natürliche Entwicklung wird gestört. Kommt es dann doch irgendwann zum Coming-out, verringern sich diese Symptome meist erst einmal, da eine Erleichterung eintritt und das Leben rückwirkend besser verstanden wird. Doch nun stehen die Betroffenen vor neuen Herausforderungen.

Das äußere Coming-out steht an

Vom äußeren Coming-out spricht man, wenn ein nicht hereosexuell orientierter Mensch sich seiner eigenen Orientierung bewusst ist und andere darüber nun in Kenntnis setzt. Das ist ein lebenslanger Prozess und hört nie auf, denn jedes Mal, wenn man neue Menschen kennenlernt, wissen diese nichts von der eigenen sexuellen Orientierung. In der heutigen Zeit ist es leider noch nicht selbstverständlich, dass man so akzeptiert wird wie man ist, was ein Coming-out immer noch notwendig macht. So entlastend das innere Coming-out auch sein kann, so angsteinflößend ist für Viele das äußere Coming-out. Denn die frisch gewonnene Klarheit wirft nun auch eine Menge Fragen auf.

 Hier ein paar typische Beispiele:

  • Bin ich zu spät dran?
  • Warum ich?
  • Hassen mich die anderen jetzt? 😢
  • Wo finde ich Gleichgesinnte?
  • Muss ich mich überhaupt bei anderen outen?
  • usw…

Mit jemandem reden bringt Entlastung

Vor allem aber entsteht der Wunsch, mit jemandem darüber zu sprechen. Viele Homosexuelle beschreiben oft das Gefühl, alleine mit ihren Problemen zu sein. Sich heterosexuellen Menschen anzuvertrauen, scheint in dieser Situation gefährlich, weil sie auf Ablehnung stoßen könnten. Das beste ist also, sich jemanden zu suchen, von dem man 100% weiß, dass er keine Probleme mit jeglicher Form der sexuellen Orientierung hat und offen damit umgeht oder aber jemanden, der dieselbe sexuelle Orientierung hat. Mit jemandem zu reden, der einen versteht, kann extrem befreiend wirken. Wenn man einen Verbündeten hat, dann fällt das Erforschen der eigenen Identität umso leichter. Das können durchaus professionelle Helfer, wie Sozialpädagogen in queeren Jugendzentren, sowie Coaches oder Therapeuten mit Queerkompetenz sein.

An dieser Stelle möchte ich zudem gerne auf die Beispielfragen von weiter oben eingehen, um zu zeigen, dass die Vorstellungen in aller Regel viel schlimmer sind, als die Realität.

Bin ich zu spät dran?

Nein! Man kann gar nicht zu spät dran sein. Interessanterweise stellen sich diese Frage aber Viele nach ihrem Coming-out, egal welchen Alters. Damit verbunden ist die Befürchtung, sein Leben verpasst zu haben. Sieh es doch einfach mal so: Deine bisherigen Lebensumstände haben es dir nicht möglich gemacht, dass du dich früher mit deiner sexuellen Orientierung bewusst auseinandergesetzt hast. Deine Psyche wollte dich damit schützen. Dafür darfst du dankbar sein. Da du es nun aber doch geschafft hast, war deine Psyche der Meinung, dass du nun bereit dazu bist und es gut verarbeiten kannst. Folgerichtig ist für jeden, der sein inneres Coming-out hat, der Zeitpunkt seines Outings immer der goldrichtige Zeitpunkt.
Wenn dich nun Gedanken quälen, dass du dein bisheriges Leben verpasst hast und wie dein Leben verlaufen wäre, wenn du dich schon früher geoutet hättest, tappst du in eine Falle. Denn du unterstellst damit automatisch, dass dein Leben besser verlaufen wäre. Das ist aber gar nicht sichergestellt. Blicke auf dein bisheriges Leben zurück und freue dich darüber, was du bisher in deiner Vergangenheit Schönes erlebt hast. Diese Erinnerungen kann dir keiner mehr nehmen. Für die schlechten Dinge sage dir: Wer weiß, wozu diese Erfahrungen noch einmal gut sein werden.

Warum ich?

Auf diese Frage gibt es keine Antwort und sie ist auch reine Energieverschwendung. Du wurdest so geboren. Ob du dir das vor deiner Geburt so ausgesucht hast oder nicht, überlasse ich deiner spirituellen Überzeugung. In jedem Fall kann die sexuelle Orientierung nicht verändert werden. Das ist auch gut so! Also halte dich unbedingt von sogenannten “Homoheilern” fern, die dir etwas anderes versprechen. Lerne lieber, diesen Teil von dir neugierig zu erforschen. Wie heißt es so schön: “Wir müssen alle mit dem Blatt spielen, was wir auf der Hand haben”. Also nimm es an und mach ein fantastisches Leben daraus!

Hassen mich die anderen jetzt?

Es gibt leider viele Menschen, die aufgrund von Denkfehlern und tiefsitzenden Glaubenssätzen, welche sie aus ihrer Herkunftsfamilie und ihrer Kultur übernommen haben, eine ausgeprägte Homofeindlichkeit an den Tag legen. Das ist natürlich traurig. Allerdings sind wir nicht für die Denkweise anderer Leute verantwortlich. Wenn sich jemand dazu entscheidet, dir den Rücken zuzukehren, nur weil du dich jetzt geoutet hast, dann ist das zunächst sicherlich sehr verletzend. Aber am Ende des Tages schwingt deine Energie nicht mit der des anderen und ihr würdet sowieso nicht zusammen passen. Trauere ein wenig um die verlorene Freundschaft, schließe sie innerlich ab und such dir Leute, die dich so lieben wie du bist. Und glaub mir, davon gibt es eine Menge!

Wo finde ich Gleichgesinnte?

Gerade in der heutigen Zeit des Internets, ist es gar nicht so schwierig, Gleichgesinnte zu finden. Und das ist wichtig. Denn wenn du dich zu einer Gruppe zugehörig fühlst, stärkt das deine Identität und macht dich glücklicher. Du kannst in Austausch gehen, deine Geschichte erzählen und von den Geschichten anderer Menschen lernen. Es gibt zahlreiche Communities, denen du beitreten kannst. In den größeren Städten gibt es viele Angebote, die du nutzen kannst. Sei es queere Jugendzentren, wenn du noch in die Altersspanne fällst, LGBT-Sportvereine oder andere Gruppen. Auf Partys oder in Bars kannst du auch Leute kennenlernen, falls du gerne ausgehst. 
Die LGBT-Community ist sehr offen für neue Kontakte. Recherchiere einfach ein bisschen und freue dich auf die Leute, die du kennenlernen wirst. Höre dabei am besten auf dein Bauchgefühl, dann wirst du schnell erkennen, wer zu dir passt und von wem du dich lieber fernhalten möchtest.

Muss ich mich überhaupt bei anderen outen?

Nein. Du musst gar nichts. Das Wichtigste ist, dass du mit dir selbst zufrieden bist und ein Leben im Einklang mit deiner Orientierung und Identität führst. Wenn du andere in deinem Umfeld daran teilhaben lassen möchtest, dann oute dich. Das erfordert jedes mal Mut. Doch so kannst du sicher gehen, dass du akzeptiert wirst. Oder du hast die Gewissheit, dass du eben nicht akzeptiert wirst, was ja auch Klarheit bedeutet. Und mal ehrlich, wer will nicht am liebsten einfach so akzeptiert werden wie er ist?
Wenn du aber gar kein Bedürfnis danach hast, anderen von deiner sexuellen Orientierung zu erzählen, weil es dir nicht wichtig ist, dann lass es. 
Wichtig ist jedoch, dass für dich kein Leidensdruck entsteht. Denn wenn du das Gefühl hast, dich verstecken zu müssen, aus Angst vor Ablehnung oder Anfeindung, obwohl du dich aber gerne zeigen würdest, dann ist es keine gute Strategie, sich dauerhaft nirgendwo zu outen. Es ist wichtig, mit jemandem über Themen zu reden, die dich beschäftigen. Such dir in diesem Fall lieber Hilfe bei Coaches oder Therapeuten, die dich unterstützen können.

Fazit

Das innere Coming-out ist ein Prozess, der dann abgeschlossen ist, sobald man sich seiner sexuellen Orientierung bewusst ist und diese auch akzeptieren kann. Das äußere Coming-out jedoch dauert ein Leben lang. Nach dem Outing ist vor dem Outing, denn leider ist es in unserer Gesellschaft immer noch problematisch, von der heteronormativen Norm abzuweichen. 
In jedem Fall ist es wichtig, dass man Gleichgesinnte findet, mit denen man darüber reden kann. Das entlastet enorm. Anschließend kann man anfangen, ein Leben im Einklang mit seiner sexuellen Orientierung und Identität zu leben. Die Voraussetzungen und die Unterstützung, die man als anders fühlender Mensch heutzutage erfährt, werden immer besser. 
Also trau dich, geht raus und genieße dein Leben!

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