6 Schritte, wie soziale Angst überwunden werden kann

von | 27. Mai 2022

Zugegeben, jeder hatte vermutlich schon mal Angst in Situationen mit anderen Menschen. Wenn es zum Beispiel darum geht, jemanden anzusprechen, den man vielleicht auf den ersten Blick toll findet. Da geht dann schnell die “Pumpe”, es werden innerlich Szenarien kreiert, warum das doch keine gute Idee ist und am Ende lässt man es dann vielleicht bleiben, weil die Angst, sich zu blamieren, zu groß ist. Bei so einem Ereignis braucht man noch nicht von sozialer Angst sprechen.

Solltest du aber generell ein starkes Unwohlsein in jeglicher Form bei sozialen Kontakten spüren und sogar zu Vermeidungsverhalten tendieren (indem du z.B. Treffen mit anderen lieber absagst und dafür auch noch eine Ausrede erfindest), könnte das ein Anzeichen für soziale Angst sein. In einer stark ausgeprägten Form spricht man sogar von einer sozialen Phobie. In diesem Artikel beschreibe ich, was soziale Angst ist, wie sie entsteht, wie sie unser Leben unfrei macht und wie sie überwunden werden kann.

Soziale Angst ist logisch unbegründet

Was genau ist soziale Angst eigentlich? Im Grunde ist es die Angst, sich im Beisein anderer Menschen zu blamieren oder generell negativ aufzufallen. Dazu können allerlei körperliche Symptome wie schwitzen, erröten, zittern bis hin zu Übelkeit oder starkem Harndrang auftreten. Um sich dieser Angst und den Begleiterscheinungen zu entziehen, entwickeln Betroffene Vermeidungsstrategien. Sie begeben sich einfach nicht in die Gesellschaft anderer Menschen, dann kann ihnen nichts passieren. Was diese Situationen in der Regel alle gemeinsam haben ist, dass rein logisch betrachtet überhaupt nichts Schlimmes passieren kann. Selbst das Worst-Case-Katastrophenszenario wäre noch handlebar. Die Betroffenen wissen dies meistens auch, spüren aber dennoch diese unangenehme Angst.

LGBTIQ*-Menschen leiden besonders unter sozialen Ängsten

LGBTIQ*-Menschen sind dabei besonders häufig von sozialer Angst betroffen. Für sie besteht die zusätzliche Herausforderung, dass ihr Umfeld möglicherweise gar nichts von ihrer sexuellen Identität weiß. Das verstärkt also nochmals ihre Ängste, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und dann negativ aufzufallen, abgelehnt oder sogar angefeindet zu werden. In diesem Fall ist die Angst also ein stückweit berechtigt, da die mögliche Reaktion tatsächlich gefährlich sein kann. Meist wird dann ein negativer Ausgang unterstellt und ein “Coming-Out” wird vermieden, um sich zu schützen. Auch wenn das kurzfristig für Entlastung sorgt, hat das leider auch zur Folge, dass die soziale Angst aufrecht erhalten wird. 

Angst ist hilfreich

Generell ist die Angst ja ein hilfreicher Begleiter. Sie warnt uns davor, dass wir unseren sicheren und bekannten Bereich verlassen und uns in eine Situation begeben, deren Ausgang unbekannt ist. Das ist erstmal ein sinnvoller Mechanismus, denn ohne ihn würden wir uns blind in jede Situation stürzen, ohne vorher die Risiken abzuwägen. Die Menschheit würde es dann vermutlich auch gar nicht mehr geben.

Wir rechtfertigen uns innerlich, um soziale Situationen zu vermeiden

Warum aber spüren wir diese Angst auch dann, wenn wir vom Verstand her genau wissen, dass nichts schlimmes passieren kann? Die Supermarkt-Mitarbeiterin nach einem Produkt fragen, bei einem Restaurant anrufen und einen Tisch reservieren, alleine ins Kino gehen, in einer Gruppe von bekannten Leuten sagen, dass man schwul ist. Das sind doch alles recht sichere Situationen, in denen von vornherein klar ist, dass da nichts dramatisch, schlimmes passieren wird. Und dennoch spüren wir bei einigen dieser Situationen ein Unwohlsein und vermeiden  sie dann doch lieber. Am Ende rechtfertigen wir uns das dann innerlich sogar noch. “Ach die haben das Produkt bestimmt gar nicht mehr” oder “Das Restaurant ist bestimmt schon voll an dem Tag”.

Der Umgang mit Angst wurde nie richtig erlernt

Versagt hier unser eigentlich sinnvoller Mechanismus? Nein das nicht, wir haben lediglich nie den richtigen Umgang damit gelernt. Im frühesten Kindesalter können wir nur sehr grobe Unterscheidung machen was Situationen angeht. Eine Situation ist gut, weil sie positive Gefühle erzeugt oder eine Situation ist bedrohlich, weil sie negative Gefühle erzeugt. Das klassische “Schwarz-weiß-Denken” eines Kindes also. Im Laufe der kindlichen Entwicklung löst sich diese grobe Spaltung langsam auf und wir sind in der Lage viel detaillierter zu differenzieren. Zudem lernen wir, dass Unwohlsein nicht automatisch bedeutet, dass Situationen vermieden werden müssen und Motivation nicht automatisch bedeutet, sich in Situationen hinein zu begeben.

Wir stecken im kindlichen “Schwarz-weiß-Denken” fest

Leider haben aber viele von uns diese wichtigen Entwicklungsschritte nicht in ausreichender Form gelernt. Sie stecken immer noch im kindlichen “Schwarz-weiß-Denken” fest,  bei dem Situationen, die Angst hervorrufen, unbedingt vermieden werden sollten, weil sie (lebens-)bedrohlich sein könnten. Das erkennt man z.B. daran, dass die kleinsten, negativen Nuancen einer Situation, die gesamte Situation negativ erscheinen lassen.

Die Party wird zum Misserfolg

Beispiel: Ich bin Gastgeber einer Party, habe viel Zeit in die Planung investiert und die Party ist ein voller Erfolg. Dann kommt einer der Gäste zu mir und bemerkt, dass das Essen ja etwas zu wenig gewesen sei. Und Zack! Die Party wird für mich innerlich zum kompletten Misserfolg. Mein Fokus liegt auf einer vermeintlich negativen Äußerung einer einzelnen Person und wird auf die gesamte Party generalisiert. Das klassische “kindliche” “Schwarz-weiß-Denken. Entweder die Party ist perfekt (das eine Extrem), ansonsten ist die Party ein Misserfolg (das andere Extrem). Es ist keine Differenzierung möglich.

Mögliche negative Konsequenzen werden generalisiert

Dass diese limitierte Art zu denken dem heutigen Entwicklungsalter gar nicht mehr angemessen ist, fällt aber leider nicht auf, da ja nie eine andere Art zu denken entwickelt wurde. Hier nimmt auch die soziale Angst ihren Anfang. Denn Menschen, die Angst haben, sich vor anderen zu blamieren oder negativ aufzufallen, nehmen einen kleinen Teil der Begegnung, der möglicherweise negativ ausgelegt werden könnte und generalisieren ihn auf die gesamte zwischenmenschliche Beziehung. 

Temperament und Erziehung spielen eine Rolle bei sozialen Ängsten

Soziale Angst kann zudem verschiedene Ursachen haben. Menschen kommen mit einem gewissen Temperament auf die Welt. So gibt es eben Menschen, die von Natur aus zurückhaltender und schüchtern sind (introvertierte Kinder), während andere von Anfang an aktiv den Kontakt mit anderen suchen (extravertierte Kinder). Dass die “Intros” etwas mehr Zurückhaltung in gesellschaftlichen Situationen an den Tag legen als die “Extros”, ist also völlig normal.

Angst wird von den Eltern gelernt

Zum angeborenen Temperament kommen nun noch Lerneffekte hinzu. Zum einen lernen die Kinder von ihren Eltern den Umgang mit anderen Menschen. Sind die Eltern eher zurückgezogen und auch ängstlich-vermeidend im Kontakt mit anderen, besteht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass auch die Kinder später Kontakte eher vermeiden werden. Zum anderen kommen noch prägende Erlebnisse in Kindheit und Jugend hinzu. Werden Kinder oder Jugendliche im Kontakt mit anderen Menschen z.B. bloßgestellt (in einer Situation, wo sie es nicht erwartet haben), prägt sich das tief in ihr Gedächtnis ein und zukünftige Situationen mit anderen Menschen werden eher vermieden. Das Thema Mobbing ist also auch ein großer Treiber für soziale Angst.

Soziale Angst schränkt das Leben enorm ein

Die soziale Angst kann dabei weitreichende Folgen auf unser Leben haben. Denn um die Schmerzen der Vergangenheit nicht noch einmal spüren zu müssen, erzeugt unser Körper Angst. Die Angst selbst, also die Vorstellung vor negativen Gefühlen, ist bereits so unangenehm, dass alles versucht wird, um die Angst zu vermeiden. Diverse Vermeidungsstrategien führen dabei kurzfristig zu einer Erleichterung, indem die Angst verschwindet. Sie führen aber leider auch dazu, dass die soziale Angst aufrechterhalten wird, weil kein neuer Umgang gelernt wird. Ein Teufelskreis. Das was uns kurzfristig aufatmen lässt, hält uns langfristig gefangen. Einsamkeit und Stillstand sind die Folge. Der ausbleibende Wachstum kann sich dann in anderer Form manifestieren, z.B. in Form von körperlichen Krankheiten oder einer Depression.

Soziale Angst können sehr gut überwunden werden

Die gute Nachricht ist: Soziale Angst kann sehr gut überwunden werden, sodass man wieder mutig neue Beziehungen mit anderen Menschen eingehen kann und das Leben wieder völlig frei genießen kann. Die Kehrseite davon: Man muss sich seinen Ängsten stellen und sich genau in die Situationen begeben, die man so konsequent vermeidet. Wenn Vermeidungsstrategien zur Aufrechterhaltung der Ängste führen, ist es logisch, dass die Aufgabe eben dieser kurzzeitig entlastenden Strategien die Wende bringt. Viele Menschen scheuen sich aber davor und versuchen lieber “an sich zu arbeiten”, damit auf wundersame die Ängste zuerst verschwinden und man sich danach angstfrei in die Situationen begeben kann. Leider funktioniert das so nicht. Ich zeige hier ein paar Schritte, wie man sich seiner sozialen Angst stellen kann:

1. Vermeidungsstrategien bemerken

Wie bei allen Problemen ist der erste Schritt, sich dieser Probleme bewusst zu werden. Und zwar genau dann, wenn sie entstehen. Lerne also, dich selbst zu beobachten. Wann genau vermeidest du es, Kontakt mit anderen aufzunehmen oder dich in Situationen mit anderen Menschen zu begeben? Nimm diese Situationen erst einmal nur wahr. Du brauchst noch nichts ändern. Respektiere deine Vermeidungsstrategien und mach dich nicht dafür nieder, sie waren bisher ja auch nützlich. Schreibe z.B. am Ende eines jeden Tages auf, welche Situationen du aktiv vermieden hast.

2. Identifiziere die Gedanken

Wenn es dir gelingt, Situationen zu erkennen, die du vermeidest, dann versuch mal zu ergründen, welche Gedanken dir in diesen Situationen in den Sinn kommen. Meist ist es eine Stimme, die einen bestimmten Satz in Form einer Rechtfertigung oder einer Drohung sagt. Das braucht etwas Zeit und Übung. Wenn es dir aber gelingt, dann schreibe diese Gedanken in Form von gesprochenen Sätzen einmal auf. Typische Sätze sind “Das ist zu gefährlich”, “Der interessiert sich eh nicht für dich”, usw.

3. Arbeite mit den Sätzen

Hast du ein paar dieser Sätze identifiziert, dann analysiere diese einmal genauer. Meistens sind es Sätze, die nicht der Wahrheit entsprechen und zudem noch unvollständig und unbegründet sind. Sowas wie “Der interessiert sich eh nicht für dich” ist erstmal nur eine Behauptung in deinem Kopf. Nun denke diese Sätze einmal für dich konsequent zu Ende und hinterfrage sie kritisch. Woher weiß ich so genau, dass er sich nicht für mich interessiert? Kann es nicht sogar sein, dass er mich sympathisch findet, wenn ich ihn anspreche? Du wirst bemerken, dass die Sätze, die dich davon abhalten mutig auf andere zuzugehen einfach schlicht quatsch sind!

4. Exposition im Kopf

Als nächstes übe dich langsam darin, die Situationen, die du immer vermeidest, aktiv aufzusuchen. Zunächst aber nur in deiner Vorstellung. Nimm dir ausreichend Zeit und Ruhe, setze dich bequem hin und schließe die Augen. Meditiere ein paar Minuten, damit du zur Ruhe kommst. Nun stell dir eine konkrete Situation vor, die du vermeiden würdest oder in der Vergangenheit vermieden hast und begib dich in deinen Gedanken hindurch. Achte dabei auf deine Körperempfindungen und spüre ihnen nach, ohne zu bewerten. Beobachte auch deine Gedanken und bemerke die unvollständigen und unbegründeten Sätze.

5. Ab in die Wirklichkeit

Jetzt wird es Zeit, dass du dir reale Situationen suchst und diese meisterst. Fange ganz klein an. Sprich z.B. einen Passanten auf der Straße an und frage nach der Uhrzeit. Beobachte dich auch hier vorher, während und nach der Begegnung. Welche Gefühle kommen auf, welche Gedanken. Bist du durch die Situation durchgekommen, dann klopfe dir bitte mit deiner eigenen Hand auf die Schulter und sei stolz auf dich.

6. Erhöhe den Schwierigkeitsgrad

Wenn du es geschafft hast, dich in viele kleine Situationen zu begeben und dich dafür gewürdigt hast, dass du sie ohne eintreten von schlimmen Konsequenzen bestanden hast, wirst du mittlerweile schon eine Veränderung feststellen können. Nämlich, dass deine Ängstlichkeit bereits zurückgegangen ist. Nimm dieses Gefühl wahr, dass du dich nun Dinge traust, die du früher vermieden hättest. Diese Motivation kannst du nun verwenden, um dich in größere Situationen zu begeben. Gehe dabei in deinem Tempo vor und suche gezielt nach Situationen, die du vermeiden möchtest.

Mach ein Spiel aus deiner sozialen Angst

Im Prinzip ist es recht einfach, seine soziale Angst zu überwinden: Selbstbeobachtung lernen und sich immer wieder in Situationen begeben, die leicht außerhalb der eigenen Komfortzone liegen. Dabei ist es natürlich notwendig, das unangenehme Gefühl der Angst kurzfristig auszuhalten. Aber wenn du das konsequent machst, wird es irgendwann zu einem Spiel. Dann wirst du direkt bemerken, wenn du mal wieder etwas vermeiden willst und dir dann im besten Fall denken “Ne! Jetzt erst recht! Rein in die Situation!”. Es wird eine Weile dauern, aber das neue Gefühl, was dann langsam entsteht, ist phänomenal. Du wirst bemerken, dass sich dein Wirkungskreis erweitert und du viel mehr vom Leben hast, weil du wieder gelernt hast dich auszuprobieren. Es lohnt sich.

Fazit:

Eine soziale Angst hat viele Ursachen. Zum einen ist das angeborene Temperament und die sich daraus entwickelnden Persönlichkeitszüge ausschlaggebend. Zum anderen haben Vorbilder in der Erziehung sowie prägende Erlebnisse, wie z.B. Mobbing, einen Einfluss darauf, ob sich eine soziale Angst oder sogar eine soziale Phobie entwickelt oder nicht. Vermeidungsstrategien, um diesen Ängsten aus dem Weg zu gehen, haben zwar kurzfristig eine entlastende Wirkung, sorgen aber langfristig dafür, dass die Ängste aufrechterhalten werden. So wird der eigene Wirkungskreis und das Freiheitsgefühl immer kleiner. Soziale Angst kann aber recht gut überwunden werden, indem man die Situationen erkennt, für sich analysiert und gerade rückt und sich aktiv in soziale Situationen begibt. Sollte es doch zu schwer sein, kann man sich immer noch Unterstützung durch einen Coach oder Therapeuten holen, der das ganze strukturiert anleiten kann. Coaches und Therapeuten schaffen einen sicheren Rahmen, in dem man dann gemeinsam die Komfortzone erweitern kann und bei Rückschlägen wieder aufgefangen wird. So schafft man es, ein selbstbewusster Mensch zu werden und sich in der Gesellschaft anderer wieder wohlzufühlen.

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