Coming-Out: Warum es nie zu dafür spät ist

von | 9. Okt 2021

Neulich habe ich in eine traurige Geschichte gelesen. Ein 12-Jähriger musste seine Geburtstagsfeier absagen, weil all seine Freunde nicht mehr zu ihm kommen wollten. Grund dafür war, sein Coming-Out. Das ist nicht nur herzzerreißend, es hat mich zusätzlich auch erstaunt. „Mit nur 12 Jahren weiß er bereits, dass er schwul ist?“ Sehr beeindruckend. Aber was sagt das über all diejenigen aus, die sich erst sehr viel später outen?

Der Junge kann mit 12 Jahren jedenfalls alle Lebensphasen mit dem Bewusstsein seiner Homosexualität leben und wird hoffentlich nicht das Gefühl haben, dass er etwas verpasst hat. Dieses Gefühl haben nämlich sehr viele Schwule, die sich spät geoutet haben. Wobei „spät“ auch relativ ist und im Auge des Betrachters liegt. Nicht nur Menschen der Ü30, Ü40 oder Ü50+ Generation denken, dass sie spät dran seien. Auch die jungen Menschen unter 30 glauben, dass sie sich viel zu spät geoutet haben und damit einen Teil ihres Lebens bereits verpasst haben.

Eine zentrale Frage, die sich also viele Homosexuelle stellen ist: „Bin ich zu spät dran für ein Coming-Out?

Um es kurz zu machen: Natürlich nicht!

Eine ernst gemeinte Frage

Genau genommen ist diese Frage völlig absurd. Natürlich bist du nicht zu spät dran. Wenn man weiter darüber nachdenkt kann es auch keine andere Antwort geben. Was wäre denn die Alternative? „Ja, ich bin zu alt für ein Coming-Out, also behalte ich das lieber für mich und verstelle mich weiterhin„? Das wäre noch viel absurder. Tatsächlich stellen sich aber sehr viele Homosexuelle diese Frage nach ihrem inneren Coming-Out und meinen das auch völlig ernst.

Mein Coming-Out war mit 27

Ich selbst gehörte auch dazu. Mein eigenes Coming-Out hatte ich mit 27. Ich hatte den Kampf verloren. So fühlte es sich jedenfalls an. Es war der Kampf unbedingt heterosexuell sein zu wollen und doch noch eine Freundin zu finden, um mein Umfeld glücklich und stolz zu machen. Aber wenn man einmal unten angekommen ist, gibt es nur noch eine Richtung und die ist nach oben. Hier fand dann ein Perspektivwechsel statt. Ich hatte den Kampf nämlich nicht verloren, sondern gewonnen. Ich hatte endlich meine wahre Identität gefunden und konnte enorm viel Ballast dort unten lassen, der nicht mehr zu mir gehörte.

Bin ich nicht zu alt für ein Coming-Out?

Neben meiner neu gewonnen Freiheit nach dem Coming-Out und den schier endlosen Möglichkeiten, die sich mir nun boten, stellte ich mir aber eben auch die Frage, ob ich mit 27 nicht zu alt bin, um nun schwul zu sein. Was sich zunächst merkwürdig anhört, war für mich in dieser Situation alles andere als merkwürdig. Es waren reale Gefühle der Unsicherheit und der Angst. Gerade schwule Männer, die sich einen stabilen Freundeskreis aufgebaut haben, vielleicht sogar in einer Beziehung mit einer Frau sind und möglicherweise schon Kinder haben, empfinden diese Angst als übermächtig.

Die Angst vor Ablehnung als Überlebensstrategie

Was steckt genau dahinter, dass wir uns diese Frage stellen, die so viel Macht über uns hat? Es handelt sich primär um die Angst vor Ablehnung. Wir Menschen sind soziale Wesen und konnten früher nur in Gruppen überleben. Daher war die Bindung an so eine Gruppe und die Akzeptanz der Gruppenregeln überlebenswichtig. Heutzutage gehören wir jedoch keinem Stamm mehr an. Unsere Gruppen sind stattdessen Familie, Freunde und die Gesellschaft als Ganzes. Der Überlebensinstinkt und die Todesangst, aus Gruppen ausgeschlossen zu werden, existiert allerdings immer noch tief in uns drin und lässt sich auch nicht abschalten.

Coming-Out erzeugt gemischte Gefühle

Wenn ich mir also nun bewusst werde, dass ich schwul bin, werden einige psychische Prozesse in Gang gesetzt. Das Gehirn berechnet mein Leben quasi neu. Es entsteht dann Neugierde auf das neue Leben, was nun alles möglich ist, aber eben auch Trauer, dass ich mich von meinem alten Leben, wie ich es mir ursprünglich einmal vorgestellt habe, verabschieden muss. Es entstehen also gemischte Gefühle. Meistens wird auch eine deutliche Erleichterung spürbar, denn das Versteckspiel vor mir selbst hört nun auf und ich kann mir nun auch sehr viele vorherige Verhaltensweisen erklären. Der Energieaufwand, meine Maske aufrecht zu erhalten, sinkt infolgedessen deutlich und setzt damit neue Kräfte frei.

Die Vorstellung an ein Outing überfordert uns

Nun stehe ich aber auch vor einer riesigen Herausforderung. Ich möchte mich ja vor den anderen auch nicht mehr verstecken. Und hier wird es kompliziert, denn nun berechnet das Gehirn die potenzielle Gefahr, die entsteht, wenn ich anderen von meiner sexuellen Orientierung erzähle. Das wird ein Gefühl der Angst erzeugen, denn es ist eine unbekannte Situation und unser Körper will uns damit warnen, dass wir bekanntes Territorium verlassen. Wie stark dieses Angstgefühl dann tatsächlich ist, hängt von unserem Selbstwert und unserem Selbstvertrauen ab. Je niedriger diese ausgeprägt sind, desto weniger Zuversicht haben wir, dass wir diese Situation meistern können. Der Selbstwert ist bei homosexuellen Menschen tendenziell sowieso niedriger ausgeprägt, da wir uns ja bereits an eine Heterogesellschaft anpassen mussten, obwohl wir unbewusst das Gefühl hatten, anders zu sein. Wir haben also bereits gelernt, unseren wahren Wert unbewusst zu verleugnen und uns zu verstecken, damit wir nicht auffallen. Und plötzlich sollen wir diesen sorgfältig aufgebauten Schutz einfach so fallen lassen? Das überfordert uns!

Was werden die anderen sagen?

Jetzt gehen die Schreckensszenarien los. „Was wird meine Familie sagen?„, „Werden sie mich noch akzeptieren?„, „Werden sich meine Freunde von mir abwenden?“,Wird man sich über mich lustig machen?„. Im Katastrophisieren ist unser Gehirn einsame Spitze. Um uns nämlich vor möglichem Schmerz zu schützen, werden Ausgänge dieser Szenarien konstruiert, mit denen wir uns schlecht fühlen. Unser Gehirn nimmt also unseren Körper zu Hilfe und erzeugt reale Angstgefühle und das, obwohl die Katastrophen noch gar nicht eingetreten sind. Es will uns somit dazu animieren, die potenziell gefährlichen Situationen, die zu einem Ausschluss aus der Gruppe führen, zu vermeiden. Vermeidungsgefühle wiederum brauchen aber auch eine plausible Erklärung. Also kommen uns Gedanken in den Sinn, mit der wir diese Gefühle verstehen wollen. Einer dieser Gedanken ist: „Ich bin zu spät für ein Coming out„. Hierdurch folgt eine mögliche Lösung für dieses Problems: „Ich oute mich also nicht„.

Das Gefühl, der Einzige mit diesem Problem zu sein

Vielleicht verstehst du jetzt auch, dass es völlig egal ist, wie alt du bist. Denn diese Urangst, den Halt der Gruppe zu verlieren, ist so tief in uns drin, dass sich jeder diese Frage automatisch stellt, egal wie alt er ist. Übrigens kommt mit dieser Frage noch ein weiterer fieser Gedanken hinzu: „Ich bin der einzige mit dem Problem„. Dieser Gedanke lässt dich glauben, dass kein anderer auf dieser Welt dieses Problem hat. Da du nicht als abnormal gelten willst, erfindet dein Gehirn diese Geschichte und will dich ebenfalls dazu animieren, nicht zu handeln und damit Schmerz (Ausschluss aus der Gruppe) zu vermeiden. Ganz schön hinterlistig unser Gehirn oder?

Was kannst du tun?

Was kannst du tun, wenn du dich in so einer Situation befindest? Der erste Schritt ist immer deine eigene Wahrnehmung zu beobachten. Schreibe dir am besten auf, welche Szenarien dein Gehirn produziert und welche körperlichen Gefühle damit verbunden sind. Der nächste Schritt ist, dass du deinem Gehirn nun Dankbarkeit schenkst. Es will dich beschützen und das ist eine sehr gute Sache. Wenn wir diesen Mechanismus nicht hätten, würden wir nicht lange leben. Aber als selbstständig denkender Mensch darfst du nun die möglichen Katastrophen selbst einschätzen und für dich überlegen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass diese Katastrophen wirklich eintreffen. Gehe dazu deine aufgeschriebenen Szenarien durch und denke sie im Kopf oder auf Papier im Detail, Schritt für Schritt, bis zum Ende. Dann hast du eine Basis, selbst zu entscheiden, ob es wirklich klug ist, diese Szenarien zu vermeiden. In manchen Situationen kann es nämlich wirklich klug sein, sich bei bestimmten Personen nicht zu outen.

Communities und Beratungen helfen enorm

Eine riesige Hilfe sind Communities. Hier findest du Gleichgesinnte, die das, was du gerade fühlst schon durchgemacht haben. Sie verstehen dich und unterstützen dich. Du brauchst hier also keine Angst haben, dass du ausgelacht wirst, denn du bist nicht alleine mit deinen Problemen. Als junger Schwuler unter 30 kannst du lokale oder regionale LGBTQ*-Jugendgruppen aufsuchen oder der Online-Community von DBNA beitreten. Für Schwule über 30 gibt es z.B. die Seite co30, wo Coming-Out Geschichten von Menschen über 30 festgehalten sind und wo du dich austauschen kannst. Auf der Seite meincomingout.de berichten viele LGBTQler von ihrem Coming-Out und können dir damit Mut machen, Je nachdem wo du wohnst gibt es auch (meist sogar kostenlose) Beratungsstellen, bei denen du mit jemanden 1:1 über deine Situation sprechen kannst. Du kannst dir natürlich auch einen Coach suchen, der auf dieses Thema spezialisiert ist und dich länger dabei begleitet.

Fazit

Du siehst also, du bist niemals zu alt für ein Coming Out und du bist auch nicht der Einzige, der sich diese Frage stellt. Es ist völlig normal, dass du dir Sorgen machst. Für den 12-Jährigen aus der Einleitung gab es übrigens auch ein Happy End. Seine Mutter hatte über Facebook einen Aufruf gestartet und um Unterstützung gebeten. Am Ende erschienen viele Leute zu seiner Geburtstagsfeier und gaben ihm das Gefühl, gut zu sein, so wie er ist.

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