Divers: Muss das dritte Geschlecht wirklich sein?

von | 24. Jun 2022

Zugegeben, der Titel ist etwas provokant formuliert, aber dahinter steckt auch ein emotional aufgeladenes Thema. Ich höre in so vielen Gesprächen, dass sich Leute über die offizielle Einführung des dritten Geschlechts “divers” empören: “Musste das jetzt wirklich sein?”. “Super, jetzt kann sich jeder selbst aussuchen, was er ist oder wie?”. “Man wird als Mann oder Frau geboren, was genau soll divers sein?”

Was mir bei all den Unterhaltungen auffällt ist, dass das Wissen – oder viel mehr Unwissen – der Menschen dazu führt, dass Diskussionen völlig vorbei an der Realität geführt werden und generalisierte Meinungen verbreitet werden, die fernab jeglicher faktischer Grundlage sind. Ich möchte daher den heutigen Artikel nutzen, um zum einen darauf aufmerksam zu machen, wie diese Unwissenheit zu gefährlichem Schubladendenken führt,  und zum anderen vor allem um aufzuklären, was wirklich hinter dem Divers-Eintrag steckt und warum er notwendig und sinnvoll ist.

Was bedeutet divers?

Seit Ende 2018 gibt es in Deutschland die Möglichkeit für Menschen, die weder eindeutig dem männlichen, noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden, die Bezeichnung Divers (d) in das Geburtenregister einzutragen. Ältere Menschen haben die Möglichkeit ihren bereits vorhandenen Eintrag ändern zu lassen, wenn sie dafür eine entsprechende Bescheinigung des Arztes vorlegen können. Es geht hier um Intersexuelle Menschen oder treffender: Intergeschlechtliche Menschen, kurz Inter* (das I im LGBTIQ*). Was für Betroffene eine absolute Erleichterung darstellt, da sie nicht mehr in eine Geschlechtszugehörigkeit gepresst werden, in die sie gar nicht reinpassen, ruft bei anderen, die das Thema gar nicht betrifft, meist Verwunderung, Empörung oder sogar starke Verärgerung hervor.

Warum sind Menschen verärgert, die nichts damit zu tun haben?

Man sollte ja meinen, dass mit der Einführung einer weiteren Geschlechtsangabe lediglich etwas hinzukommt und niemandem etwas weggenommen wird. Also können doch alle zufrieden sein, oder? Ähnlich war es 2017, als die Ehe für alle beschlossen wurde. In beiden Fällen gab es jedoch Proteste und Empörung, obwohl niemand etwas verloren hat. Worüber regen sich die Menschen also auf?

Der Mensch braucht Sicherheit und Beständigkeit

Psychologisch betrachtet haben Menschen ein enormes Bedürfnis nach Sicherheit und Beständigkeit. “Der Mensch ist ein Gewohnheitstier”, heißt es so schön und das stimmt auch. Denn Gewohnheiten sparen Energie und schützen vor Gefahren. Wenn sich nun etwas im gewohnten Umfeld ändert, muss man sich anpassen. Das geht in jungen Jahren noch recht einfach, da viel Energie und Neugierde vorhanden ist. Das Gehirn hat noch genug Kapazitäten und “freie Stellen”, die mit neuen Erfahrungen gefüllt werden können. Je älter man wird, desto weniger mag man jedoch Veränderungen und möchte lieber, dass alles beim alten bleibt. “Das haben wir immer schon so gemacht”, ist ein beliebter Spruch in der Arbeitswelt, der dazu passen könnte.

Gesellschaftlich etablierte Strukturen geben Sicherheit

Strukturen, wie die Ehe zwischen Mann und Frau, oder die Einteilung der Geschlechter in männlich und weiblich, sind seit ewiger Zeit etabliert und im kollektiven Bewusstsein der Gesellschaft verankert. Strukturen geben Sicherheit. Sie sind verlässlich und man weiß, wo man dran ist. Werden diese Strukturen nun aufgeweicht, weil sie einfach nicht mehr zeitgemäß sind, gerät für viele Menschen ihr sicher geglaubtes Weltbild ins wanken. Auch wenn ihnen faktisch nichts weggenommen wird, glauben sie, dass ihre bisherige Struktur nun weniger Wert ist, weil ja nun neue Menschen in diese Struktur inkludiert werden. Was bei der Ehe für alle zutrifft, da seitdem auch Menschen heiraten können, die es vorher nicht durften, ist bei der Einführung von Divers tatsächlich gar nicht der Fall. Denn die Menschen waren bereits inkludiert, nur eben in einem der beiden vorhandenen Geschlechter (m) oder (w).

Denkfehler bestimmen Empörungsverhalten

Hier besteht eine kognitive Verzerrung (inhaltlicher Denkfehler), dass die bestehende Struktur zusammenfällt, nur weil sie erweitert wird. Also in gewisser Weise die Angst, etwas zu verlieren. Nur basiert diese Angst auf einem Denkfehler. Um den Wertverfall aufzuhalten und die Sicherheit des Gewohnten zu wahren, wird sich empört, aufgeregt und abgewertet, nur damit irgendwie das Gefühl entsteht, man hätte die Kontrolle darüber am altbekannten festzuhalten. Das sind gängige Kompensationsstrategien der menschlichen Psyche bei drohendem Kontrollverlust.

Gründe für Ausgrenzungen werden nie hinterfragt

Leider ist das auch die perfekte Mixtur für Ausgrenzung von Menschengruppen, wie wir es in der heutigen Zeit alltäglich erleben. Menschen, die andere ausgrenzen, fühlen sich in der seit Jahrhunderten bestehenden Ordnung der Gesellschaft sicher und wollen um jeden Preis verhindern, dass sich etwas ändert. Sie sind religiös, kulturell oder durch ihr soziales Umfeld stark geprägt, hinterfragen ihre Ansichten aber nicht und  prüfen sie auch nicht auf ihren Wahrheitsgehalt. Homofeindlichkeit ist ein gutes Beispiel dafür, dass Menschen andere Menschen ausgrenzen und abwerten, ohne dass sie es begründen können.

Unwissenheit über divers herrscht vor

So ist es mit der Einführung des dritten Geschlechts leider auch. Menschen, die sich dagegen wehren, haben in der Regel nichtmal eine Ahnung davon, was divers genau bedeutet. Viele denken sogar, dass es einfach ein Trend der modernen Gesellschaft ist, dass jeder jetzt selbst bestimmen darf, was er ist und wie er leben darf. Was viele gar nicht wissen ist, dass hinter divers eine echte, wissenschaftliche und biologische Komponente steckt und eben nicht einfach ein Trend ist, dem sich jeder anschließen kann. Im Übrigen braucht es schon mehr als nur einen Trend, damit der Gesetzgeber essenzielle Dinge wirklich ändert .

Jeder Embryo ist am Anfang intersexuell

Um das zu veranschaulichen, drehen wir die Uhr einmal zurück bis in den Mutterleib. Jeder Mensch startet als Embryo im Leib der Mutter. In den ersten Wochen besitzt dieser Embryo männliche und weibliche Geschlechts-Anlagen. Das heißt biologisch gesehen sind alle Menschen am Anfang erst einmal intersexuell. Lediglich die Chromosomenkombination des Zellkerns bestimmt, ob sich der Embryo zu einem Junge (XY) oder zu einem Mädchen (XX) entwickelt. Aber auch das ist nicht gewiss. Es spielen viele weitere Komponente wie Gene und Hormone eine Rolle, die am Ende entscheidend dafür sind, wie sich das Kind im Mutterleib entwickelt.

Intersexuelle Menschen behalten beide Ausprägungen

Im Laufe der Entwicklung bilden sich die geschlechtsspezifischen Merkmale eines der beiden Geschlechter heraus und die des anderen Geschlechts bilden sich zurück. Dies ist gepaart mit der Ausschüttung von Hormonen (Testosteron und Östradiol). Bei Intergeschlechtlichen Menschen ist das nicht so. Hier gibt es verschiedene Variationen in der Entwicklung, die dazu führen, dass die Entwicklung anders verläuft. Bei der sogenannten Androgenresistenz z.B. sind die Anlagen durch das XY-Chromosomenpaar für einen Jungen vorhanden. Durch fehlende Rezeptoren des Testosteron-Hormons können sich die männlichen Geschlechtsmerkmale aber nicht voll entwickeln. Da der Körper aber auch Östradiol produziert, wird die äußere Entwicklung des Körpers weiblich geprägt. Die männlichen Geschlechtsmerkmale, wie z.B. Hoden, bleiben aber ebenfalls im Körper bestehen und produzieren weiterhin Testosteron. 

Intersexualität ist weder eine Krankheit, noch ein Problem

Man spricht hier von einer Variante der Geschlechtsentwicklung. Ein Problem ist das aber nicht. Denn Inter*-Menschen sind nicht krank. Ganz im Gegenteil. Sie sind völlig gesund. Und das spiegelt sich auch im Empfinden dieser Menschen wieder. Man kann die biologischen Eigenschaften nicht getrennt vom Erleben eines Menschen betrachten. Umso schrecklicher ist es, dass es auch heute noch Eltern und Ärzte gibt, die einen Inter*-Menschen operativ “korrigieren”, damit das Kind bloß in eine der beiden Geschlechterrollen eindeutig hineinpasst. Sicherlich ist bei den Eltern die Sorge groß, dass das Kind sonst später Nachteile haben könnte. Vermutlich ist aber auch ganz viel Angst dabei, dass es schlecht auf die Eltern zurückfällt, ein intergeschlechtliches Kind zu haben. (Was sollen die Nachbarn nur denken?). Leider entsteht so eine irreparable Schädigung für das Kind und zwar für den Rest des Lebens. Körperlich und seelisch.

Medizinische Notwendigkeit von Korrekturen sind nicht gegeben

Viel mehr Kopfschütteln bereiten mir allerdings die Ärzte, die solche Operationen vorschlagen und durchführen. Denn sie entbehren in der Regel jeglicher medizinischer Notwendigkeit. Diese Art der “Verstümmelung” mag die biologischen Spuren auf Intergeschlechtlichkeit zwar verwischen, aber das macht die betroffenen Menschen noch lange nicht zu Männern oder Frauen. Sie bleiben Inter*.

Geschlechtsidentität ist auch ein Gefühl

Jeder Inter*-Mensch fühlt sich in Wirklichkeit nämlich ganz anders, als es ein Mann oder eine Frau tut. Und das kann keine unüberlegte Operation jemals verändern. Sich weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen ist also kein Trend, den jeder für sich festlegt. Nein, es ist ein echtes Lebensgefühl, da diese Menschen wirklich anders sind und sich auch in Wirklichkeit anders fühlen. Aus diesem Grund ist es für sie bisher auch so schwierig gewesen, wenn sie sich in eine der beiden Geschlechterrollen pressen lassen mussten.

Es gibt auch Intersexuelle Tiere

Im Tierreich kommt Intergeschlechtlichkeit übrigens auch vor. Wie z.B. Regenwürmer oder Korallen. Einige Fische, wie z.B. der Clownfisch, können sogar ihr Geschlecht verändern, wenn das notwendig erscheint. 

Fazit

Die Wege der Natur sind unergründlich aber eben auch unendlich vielfältig. Daher lässt sich das Leben nicht in starre Strukturen pressen. In Wahrheit ist unser Geschlecht nämlich auf einem breiten Spektrum angesiedelt, welches fließend verläuft. Jeder Mensch, egal ob er sich als männlich, weiblich oder “dazwischen” fühlt, trägt Anteile beider Geschlechter in unterschiedlicher Ausprägung in sich. Wir dürfen also anfangen, das auch so zu sehen und jeden Menschen in seiner vielfältigen Ausprägung so annehmen, wie er ist und uns nicht ständig über das Aufweichen jahrhunderte alter Strukturen empören, die einfach nicht mehr zeitgemäß sind.

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