Kennst du das auch? Du hast ein wichtiges Projekt, dessen Abschluss aber noch in weiter Ferne liegt. Wie z.B. die Abschlussarbeit für dein Studium, eine Präsentation für die Firma oder Bewerbungen schreiben für eine neue Stelle. Doch du kannst dich einfach nicht aufraffen, damit anzufangen. “Ist ja noch Zeit” sagst du dir. Und erst dann, wenn die Deadline so bedrohlich nahe kommt, dass du sie verpassen könntest, wirst du aktiv und “schiebst” Überstunden in Form von Nachtschichten, um es doch noch in letzter Sekunde zu schaffen.
Wenn dir das bekannt vorkommt, wirst du eine Neigung zum prokrastinieren haben. Umgangssprachlich nennt man das auch “Aufschieberitis”. In diesem Artikel beschreibe ich von einer psychologischen Sichtweise aus, wie Prokrastination entsteht und wie man ihr entgegenwirken kann.
Ablenken lassen ist spannender als anfangen
Prokrastination ist kurz gesagt die Neigung, wichtige Aufgaben vor sich herzuschieben, gar nicht erst anzufangen oder erst dann anzufangen, wenn es fast schon zu spät ist. Dies ist ein mittlerweile sehr verbreitetes Phänomen unserer modernen Leistungsgesellschaft. Auf der einen Seite steht viel an, was wir schaffen müssen, auf der anderen Seite lassen wir uns einfach viel zu leicht ablenken mit vermeintlich angenehmeren Dingen wie z.B. Social Media Feeds. Aber auch der ungeliebte Haushalt wird teilweise spannender und es ist plötzlich eine wahnsinnig tolle Idee, lieber noch eine Maschine Wäsche anzustellen oder die Küche sauber zu machen, als mit der Recherche für die Abschlussarbeit zu beginnen.
Faulheit gibt es gar nicht
Was steckt dahinter? Warum kriegen viele von uns ihre Aufgaben einfach nicht erledigt oder fangen erst gar nicht an, während andere quasi mühelos alles abarbeiten, was ihnen vor die Füße fällt? Sind die Prokrastinierer einfach nur faul?
Jetzt könnte man meinen, dass faule Menschen, einfach nur ein paar Produktivitäts- oder Zeitmanagement-Tools lernen müssen und dann klappt das auch bei denen. So einfach ist das aber nicht. Gemäß einer Behauptung gibt es Faulheit gar nicht. Faulheit ist einfach nur Vermeidung aus Angst. Wenn das wirklich stimmt, würde das bedeuten, dass Tools auch nicht helfen werden, da sie nur Symptome bekämpfen, aber die eigentliche Ursache nicht adressieren und daher für viele schlicht nicht durchzuhalten wären.
Angst vor dem Scheitern
Die häufigste Ursache für das Aufschieben wichtiger Aufgaben ist die (unbewusste) Angst davor, scheitern zu können. Eine Aufgabe wird im Vorfeld als so herausfordernd und schwer empfunden, dass automatisch die Gedanken kommen, dass man diese Aufgabe möglicherweise nicht schaffen könnte. Es ist tatsächlich so, dass man sogar erwartet, zu scheitern. Scheitern wird heutzutage als bedrohlich empfunden und mit Ablehnung oder Strafe durch andere verbunden. Dazu kommt ein unerträgliches Gefühl der Scham, versagt zu haben. Da ist es die konsequente Lösung, mit einer Aufgabe erst gar nicht anzufangen. Denn wer nicht anfängt, kann nicht scheitern. Was ein Irrglaube ist, denn wer nicht anfängt, ist bereits gescheitert.
Angst vor Konsequenzen wird zu groß
Dieses “nicht anfangen, aus Angst, zu scheitern” geht aber nur so lange gut, bis die Deadline für das Erledigen der Aufgabe in bedrohliche Nähe rückt. Dann entsteht eine neue Angst. Nämlich die Angst vor verheerenden Konsequenzen, wenn man die Aufgabe nicht schafft. Bestes Beispiel ist das Schreiben der Abschlussarbeit. Das Thema ist komplex, man muss sich in etwas einarbeiten, mit dem man sich noch nie befasst hat. Das Potenzial zu scheitern ist vermeintlich hoch und es entsteht Angst. Da der Abgabetermin aber noch Monate hin ist, wird die Aufgabe aufgeschoben und angenehmere Dinge werden unternommen. Je näher jedoch die Abgabe rückt, desto mehr mischt sich eine weitere Angst mit ein, nämlich die Angst, durchzufallen. Die Vorstellung durchzufallen, das Studium nicht zu schaffen und von anderen dafür ausgelacht oder sogar bestraft zu werden, rückt plötzlich in den Vordergrund. Ab dem Zeitpunkt, wo die Angst, durchzufallen stärker ist, als die Angst vor dem Scheitern, fängt man dann doch an. Nun folgt eine enorme Energieleistung und jede verfügbare Zeit wird in die Erledigung der Aufgabe gesteckt. Nebenbei macht man sich selbst noch Vorwürfe, warum man denn schon wieder so lange gewartet hat.
Innerer Konflikt
Werfen mal einen genaueren Blick auf den nicht erlernten Umgang mit dem Scheitern. Als Kind durchleben wir verschiedene Entwicklungsphasen. Eine dieser Phasen ist die sogenannte Autonomiephase (auch Trotzphase genannt), in der das Kind beginnt, sich als eigenständige Person wahrzunehmen und sich von den Eltern langsam loslöst (ca. ab 2 Jahren). Dabei entwickelt das Kind eine Art Forscherdrang, die Umgebung eigenständig erkunden zu wollen. Wenn etwas beim erforschen und ausprobieren nicht funktioniert, reagiert das Kind mit Wut, Frust und Trotz. Dies sind völlig normale Emotionen in der Phase und helfen dem Kind, mit dem Scheitern umzugehen und die eigenen Emotionen zu regulieren. Werden Kinder von ihren Eltern in dieser Phase zu stark daran gehindert, sich selbst auszuprobieren (z.B durch ständiges Kritisieren, Verbote und Nein-Sagen) entsteht eine Entwicklungsstörung bei dem Kind, da es zum einen von den Eltern klar gemacht bekommt, dass Emotionen wie Wut und Trotz nicht erwünscht sind, zum anderen werden lehrreiche Erfahrungen mit dem Scheitern durch Verbote verhindert und das Kind lernt nie den richtigen Umgang damit.
Hier entsteht nun das Dilemma. Das Kind ist wütend, weil es durch die Eltern zu sehr in seinem natürlichen Entdeckungsdrang eingeschränkt wird. Gleichzeitig aber kann sich das Kind nicht gegen die eigenen Eltern auflehnen, weil diese immer noch als überlebenswichtige Bezugspersonen wahrgenommen werden. Also gibt sich das Kind äußerlich geschlagen und befolgt die Anweisungen der Eltern widerwillig, nur um innerlich in eine Trotzhaltung zu verfallen und alles unbewusst zu sabotieren, was die Eltern vorgeben, nur um doch noch irgendwie das Autonomieverhalten ausleben zu können.
Dieser Konflikt existiert auch im Erwachsenenalter weiter in Form innerer Anteile, die miteinander kämpfen. Sobald man an eine Aufgabe denkt, die es zu erledigen gilt, kommen gedanklich die inneren, fordernden Eltern zum Vorschein und verlangen, dass die Aufgabe auf ihre Art und Weise erfüllt wird. Gleichzeitig wird aber auch das innere trotzige Kind aktiv, was sich den Eltern widersetzen möchte, da es immer noch eine Wut hat, dass die Eltern alles bestimmen oder verbieten. So zerren beide Anteile aneinander und es entsteht eine völlige Blockade. Die anstehende Aufgabe wird gedanklich und gefühlsmäßig als zu anstrengend und überfordernd wahrgenommen und daher aufgeschoben. Diese empfundene Anstrengung ist dabei tatsächlich real, da die beiden inneren Anteile bei ihrem Kampf sehr viel körperliche Energie verbrauchen. Kein Wunder also, dass Aufschieben die leichtere Lösung ist.
Jäger/Farmer-Theorie
Prokrastination kann aber auch einen erblichen Faktor haben. Die Jäger/Farmer-Theorie versucht anhand genetischer Merkmale zu erklären, warum es einigen Menschen gelingt, mühelos ihre Aufmerksamkeit auf eine Aufgabe zu richten, während andere damit extreme Schwierigkeiten haben. So existiert die Theorie, dass Menschen eine jahrtausende alte Veranlagung haben, sich als Jäger und Sammler immer wieder blitzschnell auf neue Reize in ihrer Umwelt zu fokussieren, damit ihnen keine Nahrung entgeht und Gefahren schnell erkannt werden. Im Laufe der Evolution, als die Landwirtschaft Einzug hielt und für die Nahrung sorgte, wurde es für die Farmer hingegen wichtig, sich lange mit dem Bestellen der Felder zu befassen, ohne dass sie sich groß ablenken lassen.
So gehen Forscher davon aus, dass bestimmte Menschen genetisch mehr “Jäger” sind und sich daher von äußeren Reizen (wie z.B. Social Media) leichter ablenken lassen, während Menschen, die genetisch mehr Farmer sind, in der Lage sind, sich stundenlang auf teilweise auch monotone Aufgaben zu konzentrieren.
Prokrastination kostet viel Energie
Was genau ist aber so schlimm am Aufschieben von Aufgaben? Viele kriegen am Ende doch trotzdem alles hin, oder? Schlimm wird es dann, wenn damit ein gewisser Leidensdruck verbunden ist. Wer in seinem Drang, etwas aufzuschieben, keine Probleme sieht, braucht auch nichts ändern. Wer sich aber ständig selbst Vorwürfe macht, der Energieaufwand, alles auf den letzten Drücker zu machen, zur Erschöpfung führt und auch sonst Ziele und Träume nicht erreicht werden, der darf schon mal genauer hinschauen, ob er das Verhalten nicht ändern möchte. Nur wie geht das?
Prokrastination verringern
Sein Aufschiebe-Verhalten komplett loszuwerden wird nicht gehen. Und das ist auch gut so. Denn die Möglichkeit zum Aufschieben von Aufgaben sollte immer eine wichtige Option sein, wenn es um die Priorisierung persönlicher Bedürfnisse geht. Das Kind von der Kita abzuholen, weil es krank wurde, ist nun mal wichtiger, als für den Chef die wichtige Recherche für seinen nächsten Vortrag zu machen. Man kann aber seinen Drang zur Prokrastination deutlich verringern.
Die Persönlichkeit nachentwickeln
Sieht man jetzt mal von der möglichen genetischen Veranlagung und den relativ festen Persönlichkeitsmerkmalen ab, wird bei der Betrachtung der Ursachen eines deutlich: Es sind häufig kindliche Konflikte im Spiel, die nicht gut gelöst wurden. Sei es die Angst vor Überforderung, die Angst vor dem Scheitern und die damit verbundene Kritik oder der innere Konflikt mit den fordernden Eltern und dem trotzigen Kind. So ist es naheliegend zu sagen, dass Prokrastination auch darauf zurückzuführen ist, dass sich die Persönlichkeit als Kind nicht optimal entwickeln konnte und damit Ausdruck dieses Defizit ist im Hier und Jetzt.
Daher lässt sich das Aufschieben allein dadurch verringern, dass man seine kindliche Persönlichkeit nachentwickelt. Die Nachreifung der eigenen Persönlichkeit ist ein schwieriger, aber lohnenswerter Prozess und lässt sich am besten mit einem Coach, Berater oder Therapeut durchführen , der darin geschult ist, solche Entwicklungsstörungen zu erkennen und zu behandeln. Darüber hinaus gibt es noch ein paar weitere Ansätze, die du ohne fremde Hilfe erlernen kannst:
Vermeidungsverhalten bemerken
Wie bei jeder Lösung für persönliche Probleme geht nichts an Selbstreflektion und Achtsamkeit vorbei. Nur wenn du in einer Situationen erkennst, dass du gerade prokrastinieren willst, hast du die Chance, in den automatisch laufenden Prozess einzugreifen. Tatsächlich ist Prokrastination auch mit echten Gefühlen verbunden, die du spüren kannst. In dem Moment, wo du an eine Aufgabe denkst, meldet sich ein Gefühl in Form von Unbehagen. Dieses Unbehagen fühlt sich für jeden anders an in Bezug auf Form und Intensität. Es ist der Gedanke an eine Aufgabe, der möglicherweise Angst oder sogar Überforderung als körperliche Gefühle entstehen lässt. Dieses Gefühl wahrzunehmen, wenn es entsteht, ohne schon eine negative Bewertung parat zu haben, ist der erste wichtige Schritt.
Gedanken analysieren
Wenn du darin etwas geübt bist, das Gefühl, welches sich mit der Prokrastination bildet, zu erkennen, kannst du rückwärts zum Gedanken gehen, der das Gefühl hat entstehen lassen. Am Anfang steht nämlich immer der Gedanke an eine zu erledigende Aufgabe (der auslösende Reiz). Danach folgt in der Regel ein weiterer Gedanke, der die Prokrastination durch eine negative Bewertung der Situation entstehen lässt. Das sind dann möglicherweise folgende Gedanken:
- “Die Aufgabe ist viel zu groß, ich weiß nicht, wo ich anfangen soll”
- “Teile der Aufgabe hab ich noch nie gemacht, ich kann das gar nicht”
- “Ich bin der Aufgabe gar nicht gewachsen”
- “Wenn ich anfange, dann sieht ja jeder, dass ich es nicht schaffe und nichts kann”.
Die Kreativität unseres Geistes ist grenzenlos, wenn es darum geht, Begründungen zu finden, warum wir mit einer Aufgabe nicht anfangen wollen. Identifiziere sie und dann entschärfe sie.
Gedanken zu Ende denken
Bist du mittlerweile gut darin, das Aufschiebe-Gefühl zu erkennen und auch den Gedanken zu identifizieren, der das Gefühl auslöst? Dann kannst du anfangen, diese Gedanken zu analysieren und zu entschärfen indem du sie bewusst und konsequent zu Ende denkst. Meistens sind die Gedanken nämlich unvollständig und völlig unbegründet. Der Gedanke “Ich bin der Aufgabe gar nicht gewachsen” stimmt in der Regel einfach nicht. Wenn du dich bei so einem Gedanken ertappst, denke mal darüber nach, ob du nicht doch schon mal eine ähnliche Aufgabe bereits geschafft hast. Oder ob du generell Aufgaben trotzdem schaffst, obwohl du denkst, dass du sie nicht schaffst.
Anfangen mit positiver Verstärkung
Nachdem du nun nach einer gründlichen Prüfung der Meinung bist, dass die Gründe für das Aufschieben eigentlich Quatsch sind, kannst du ja auch einfach anfangen mit der Aufgabe. Das Problem ist, dass dieses Unbehagen, ähnlich wie bei einer sozialen Angst, körperlich noch da ist und dich dennoch daran hindern kann, anzufangen. Hier hilft es, mit positiven Verstärker-Sätzen zu arbeiten. Atme tief durch und sage dir folgende Sätze im Geiste auf:
- “Anfangen reicht, ich muss nicht alles auf einmal machen “
- “Die Dinge, die ich noch nicht kann, werde ich beim Bearbeiten der Aufgabe lernen”
- “Bisher ist mir jede Aufgabe gelungen, nachdem ich angefangen habe”
- “Ich mach das schon”
Denke dir auch gern eigene Sätze aus, mit denen du am besten in positive Schwingung gerätst. Du wirst verblüfft feststellen, dass du bei vielen Aufgaben enorm viel Fortschritt erzielen kannst, wenn du die anfängliche Schwelle des Anfangens überwunden hast. Ganz oft findest du dann sogar Motivation für die Aufgabe, während du sie bearbeitest und machst einfach weiter. Frei nach dem Motto “Der Appetit kommt beim Essen”.
Produktivitätstools und Gewohnheiten
Wenn du es dir zur Gewohnheit gemacht hast, anzufangen, auch wenn du den Drang nach Aufschieben spürst, dann ist der größte Teil geschafft. Nun geht es darum, strukturierter und effizienter zu werden. Da kommen gute Gewohnheiten (Link:1%-Regel) und die ganzen Produktivitätstools zum Einsatz, die es zu Hauf gibt. Sei es die Eisenhower-Matrix, das GTD-Prinzip (Getting things done), die Alone-Time etc. All diese Tools kommen heutzutage bereits mit digitaler Unterstützung in Form von Apps. Am besten du recherchierst selbst im Internet und probierst einfach ein paar aus, um zu schauen, mit welchen Tools du am besten zurecht kommst. Aber nicht zu lang aufschieben 🙂
Fazit
Prokrastination oder “Aufschieberitis” ist ein verbreitetes Phänomen in der heutigen Zeit. In der Regel schieben wir wichtige Dinge auf, bis die Deadline in bedrohliche Nähe rückt. Die Angst vor den Konsequenzen, bei Nichterfüllung der Aufgabe, wird ab diesem Punkt stärker als die Angst davor, mit der Aufgabe nicht zurecht zu kommen. Auch ein innerer Konflikt zwischen den fordernden Eltern und dem trotzigen kleinen Kind könnte zu Blockaden führen, wenn es darum geht, Aufgaben anzugehen. Prokrastination ist aber auch eine wichtige Fähigkeit, wenn es darum geht, Prioritäten richtig zu setzen und sollte daher niemals ganz aufgegeben werden. Sie kann gut minimiert werden, wenn man sich zunächst mit den Gefühlen und Gedanken auseinandersetzt, die einen davon abhalten, anzufangen. Anschließend helfen gängige Produktivitäts- und Zeitmanagement-Tools dabei, die Aufgaben effizienter zu gestalten.