Wie Einsamkeit überwunden werden kann

von | 15. Apr 2022

Die Corona-Jahre haben das verstärkt, was in der LGBT-Community ohnehin schon immer ein Thema gewesen ist: Einsamkeit. Diverse Lockdowns verbunden mit “Social Distancing” sowie Menschen, die hinter ihren Masken nicht mehr greifbar waren, haben ein Gefühl der Isolierung und der Abgetrenntheit hinterlassen.

Ohnehin scheint es für queere Menschen schwieriger zu sein, echte Bindung zu erfahren. So haben Studien bereits belegt, dass ca. dreimal so viele homosexuelle Männer alleine leben, als ihre heterosexuellen Artgenossen. Fehlende Bindung und soziale Isolierung führen nicht selten in eine Depression. Dabei ist die Depression hier sowohl Ursache als auch Folge der Einsamkeit. Ein Teufelskreis zweier Faktoren, die sich gegenseitig negativ beeinflussen.

Alleinsein macht nicht zwangsläufig einsam

Jetzt darf Einsamkeit jedoch nicht mit dem Alleinsein verwechselt werden. Denn es gibt durchaus Menschen, die sehr gut mit sich alleine sein können, ohne sich dabei einsam zu fühlen. Umgekehrt können Menschen auch viele Freunde haben und sogar in einer festen Partnerschaft leben und sich trotzdem extrem einsam fühlen. Der empfundene Schmerz der Einsamkeit ist also nicht allein auf äußere Faktoren zurückzuführen, sondern im Inneren eines jeden Menschen zu suchen und dort auch zu lösen.

Unerfülltes Grundbedürfnis nach Bindung

Auslöser für das Gefühl der Einsamkeit ist ein empfundener Mangel. Der Wunsch nach Bindung gehört zu den Grundbedürfnissen eines jeden Menschen und ist evolutionär bedingt in jedem von uns angelegt, unabhängig ob man sich nun zum selben Geschlecht hingezogen fühlt oder zum anderen. Aber wie kommt es, dass wir unseren Wunsch nach Bindung als unerfüllt empfinden, wenn wir heutzutage doch Kontakt zu so vielen Menschen haben?

Fehlendes Vertrauen als Ursache für Einsamkeit

Im Grunde entsteht Einsamkeit durch fehlendes Vertrauen. Denn echte Bindung kann nur dann entstehen, wenn ich mich einem anderen Menschen öffnen kann und das Gefühl habe, dieser akzeptiert und liebt mich so wie ich bin. Dazu muss ich dem anderen aber soweit vertrauen, dass ich mich verletzlich zeigen kann ohne Angst davor zu haben, dass ich abgelehnt oder beschämt werde.

Die Angst davor, abgelehnt zu werden, offenbart wiederum eine weitere Facette des Problems. Denn im Grunde bedeutet das nichts anderes, als dass ich innerlich das bestimmte Gefühl habe, nicht liebenswert oder interessant genug zu sein. Ich glaube, dass mein Gegenüber sich von mir abwenden wird, wenn er merkt, wie ich wirklich bin. Ich vertraue meinen eigenen Fähigkeiten und mir selbst als Mensch also nicht und gehe automatisch davon aus, dass das andere dann auch nicht tun. Also fehlendes Vertrauen in mich selbst und in andere.

Äußere Rolle als Bewältigungsstrategie

Um einer möglichen Ablehnung vorzubeugen, greifen Menschen zu einer alten Bewältigungsstrategie aus der Kindheit zurück. Das wahre Ich verstecken und eine Rolle spielen, um Lob und Anerkennung zu erhalten. Nun hat diese Rolle wenig mit dem authentischen Ich zu tun und bildet nur eine Fassade, um den inneren Kern zu verbergen, der schon mal auf Ablehnung gestoßen ist. Sie hat jedoch dazu geführt, dass sich die Eltern oder andere Mitmenschen einem zugewandt haben, wenn das Kind “artig” war und alle Regeln ohne Widerworte befolgt hat. Leider findet diese Strategie in der heutigen Zeit immer noch Anwendung, da seitdem keine neue Strategie erlernt wurde. Wir stecken hier sozusagen im Kind-Modus fest und merken nicht, dass wir auf völlig veraltete, nicht mehr sinnvolle Muster zurückgreifen.

Diese Fassade aufrecht zu erhalten ist zudem auf Dauer sehr anstrengend, da sie gegen die eigene Natur ist. Kein Wunder also, dass das Vermeiden von sozialen Begegnungen so attraktiv wird, weil man sich dieser Anstrengung nicht mehr aussetzen muss. Zudem werden Gespräche nur noch oberflächlich geführt, damit sie bloß nicht zu tief gehen und möglicherweise das zu schützende Innere berühren. 

Schutzmauer um den eigenen Kern

Bildlich gesprochen ziehen wir also eine starke Mauer um unseren authentischen Kern, den keiner zu Gesicht bekommen darf, weil er nicht liebenswert ist. Das was andere zu sehen bekommen ist die Fassade, die außerhalb der Mauer existiert. So können wir uns inmitten von Freunden oder in Anwesenheit unseres Partners einsam fühlen, weil wir andere Menschen nur bis zu der Mauer vorlassen, aber nicht weiter. Die perfekte Grundlage für das Entstehen von Einsamkeit, denn echte Bindung ist so unmöglich.

Eine spannende Frage die sich hier stellt ist: Warum halten wir an veralteten, unsinnigen Mustern fest, die unserem Grundbedürfnis nach Bindung zuwiderläuft? Ist es nicht das Ziel der Natur, die Bedürfnisse bestmöglich zu erfüllen? Warum sabotieren wir uns dann hier selbst? Die Antwort ist recht einfach: Priorität hat die Sicherheit und das damit verbundene Überleben. Die Erfüllung nach Bindung wird nachrangig, wenn die eigene (empfundene) Sicherheit gefährdet wird

Bindung ist erlernbar

Die gute Nachricht ist, dass das nicht bedeutet, in diesem Dilemma ewig festzusitzen. Ganz im Gegenteil, es ist sogar sehr gut erlernbar, wie man nicht mehr einsam ist. Aber es ist ein verdammt langer und harter Weg. Immerhin muss man ein konditioniertes Kindheitsmuster durchbrechen, welches sehr widerstandsfähig ist.

Um die Einsamkeit zu überwinden, darf man lernen sich anderen Menschen gegenüber verletzlich zu zeigen und ein Stück seines wahren Ichs preiszugeben. Denn das Ziel ist es, dauerhaft zwei wichtige Erfahrungen zu machen:

  1. Ich darf lernen, dass ich nicht abgelehnt werde, wenn ich mich so zeige, wie ich wirklich bin und mich öffne.
  2. Ich darf lernen dass ich trotzdem abgelehnt werde aber dabei feststelle, dass sich die Welt weiter dreht. Die (negative) Reaktion eines anderen Menschen sagt nichts über meinen eigenen Wert aus und hat demnach auch nichts mit mir zu tun.

Kurz gesagt, egal wie mein Gegenüber reagiert, ich gewinne am Ende immer, wenn ich die richtigen Schlüsse daraus ziehe. Zeige ich mich verletzlich, macht mich das in der Regel sogar sympathisch und mein Gegenüber mag mich mehr als vorher. Ich lerne, dass ich angenommen werden, wenn ich etwas von mir zeige und erreiche das, was ich eigentlich mit der aufgesetzten Maske erreichen wollte: “Ich bin richtig und werde dafür geliebt”.

Viel Mut und Übung ist erforderlich

Zugegeben, das liest sich vielleicht recht einleuchtend, ist in der Praxis aber verdammt schwer. Es erfordert eine Menge Mut, sich gegenüber anderen verletzlich zu zeigen. Am besten beginnt man ganz behutsam und tastet sich langsam vor, indem man anfangs nur kleine Dinge von sich preisgibt und die Reaktionen beobachtet. Dazu muss man übrigens nicht warten, bis man sich mit jemandem zu einem Date trifft. Der Alltag bietet jeden Tag hunderte Möglichkeiten, das zu trainieren. Bei Mitschülern, Kommilitonen, Arbeitskollegen, Freunden, der eigenen Familie, im Supermarkt usw. 

Das Wichtigste ist, dass man die Situationen erkennt, die sich einem bieten. Ein guter Indikator ist, wenn ich etwas sagen möchte, es dann aber vermeide oder etwas ganz anderes, sozial verträglicheres sage. Das ist dann immer ein Hinweis, dass man sich gerade verstellt. Wichtig in diesem Zusammenhang ist es auch, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten und diese kommunizieren zu können. 

Zusammenfassung

Einsamkeit ist ein schmerzliches Gefühl, da es uns zeigt, dass unser Grundbedürfnis nach Bindung nicht erfüllt ist. Dabei ist Einsamkeit in der Regel nicht auf äußere Umstände zurückzuführen, wo man einfach nur auf bessere Zeiten warten muss. Einsamkeit entsteht in uns selbst, wenn wir eine Schutzmauer um unseren verletzlichen Kern ziehen, weil wir glauben, dass wir abgelehnt werden, sobald jemand unseren wahren Kern berührt. Interessanterweise ist das Gegenteil der Fall. Zeigen wir uns verletzlich und geben Stück für Stück etwas von unserem wahren Ich preis, lernen wir, dass wir dennoch angenommen werden und liebenswert sind. Das erfordert aber viel Mut und kontinuierliche Übung.

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